Die Weisheit Gottes wird in 2,7b noch ein weiteres Mal als Begegnung mit Gott in zwei geradezu emphatische Gedanken gefasst: Gott hat die Weisheit schon von Ewigkeit her für die Empfangenden bestimmt; sie gibt den Menschen dabei Anteil an Gottes doxa (kabod) , am göttlichen Glanz, an Gottes Gegenwart, an Gott selbst; 139vgl. zu 2,8b Röm 8,29.
2,8 2,8Die Herrschenden dieses Äons, deren Macht schon durch Gott gebrochen wurde (s. 2,6) sind die Behörden und Machthaber, die Jesu Kreuzigung zu verantworten haben (s. o. zu 1,18). Aber diese politisch Herrschenden sind nur die sichtbaren Akteure in einem Netz der Gewalt und Zerstörung, das Paulus und viele Menschen seiner Zeit auch dämonischen Mächten zuschreiben können. Politische Strukturen offenbaren mythische Dimensionen und damit ihre strukturelle Gewalt. Das Wort aion umfasst Zeit und Raum als Machtgefüge, das Gott entgegensteht. Dass die Herrschenden Jesus gekreuzigt haben, zeigt die Gottferne dieser Herrschaftsstrukturen der Gegenwart. Das römische Imperium wird in 2,8 als Gewaltsystem analysiert (s. dazu schon oben Basisinformation „Weisheit dieser Welt“ vor 1,18). Zugleich wird die Grenze sichtbar, die Gott ihm gesetzt hat. Dass der Gekreuzigte kyrios tes doxes genannt wird betont denselben Gedanken wie 1 Kor 8,5–6: Es ist ein Kyrios , der den Herren dieser Welt Grenzen setzt. In ihm ist Gott gegenwärtig (vgl. 2 Kor 4,6). 140Die doxa Gottes qualifiziert diesen kyrios im Unterschied zu allen anderen kyrioi dieser Welt. Der Genitiv ist ein Genitivus qualitatis. 141Dieser kyrios hat als der Auferstandene den Glaubenden die Teilhabe an der göttlichen Gegenwart eröffnet. Auf kyrios tes doxes als Gottesprädikat (vor allem in aeth. Henoch 22,14 u. ö.) ist hier nicht angespielt. Es geht nicht darum, Christus gottheitlich zu qualifizieren.
2,9 In 2,9zitiert Paulus aus der Schrift, doch dieses Zitat hat sich nicht auffinden lassen. 1422,10a Seine Herkunft ist also unbekannt. Doch es ist von Paulus inhaltlich und sprachlich voll in den Zusammenhang integriert: Der Hauptsatz steht in 2,10a, das Zitat benennt das Objekt göttlicher Offenbarung: Das, was kein Auge gesehen hat …, hat Gott uns … offenbart.
In 2,10b–15 schreibt Paulus eine kleine Abhandlung über das pneuma / die Geistkraft.
2,10b 2,10b: die Geistkraft wird uns von Gott gegeben, um Gott zu begegnen (s. o. 2,7 zu mysterion / Geheimnis).
2,11 2,11erläutert die geschenkte Gottgleichheit, die das Kennen Gottes möglich macht, durch einen Vergleich mit dem Erkennen von Mensch zu Mensch. 2,12 2,12stellt den Geist der Welt abgrenzend dem Geist, der von Gott kommt, gegenüber; vgl. die Abgrenzung der Weisheit, die von Gott kommt, von den Herrschenden dieses Äons 2,6.7. Zu den alltagspraktischen Konsequenzen solcher Abgrenzung s. o. Basisinformation „Weisheit dieser Welt“ vor 1,18. 2,12b: Die Geistkraft Gottes macht uns fähig, die Geschenke Gottes wahrzunehmen: Die Befreiung durch den Messias, die das neue Leben als Körper Christimöglich macht.
2,13 2,13Die Geistkraft ist Lehrerin einer neuen Sprache (s. zu 1,5). Zu dieser neuen Sprache gehört die Fähigkeit, geistgewirktes Sehen, Hören und lalein zu deuten, es in verständliche Sprache oder auch in die aktuelle Situation zu übersetzen. Das Wort sygkrinein , das ich mit „deuten“ übersetze, ist oft als „vergleichen“, „prüfen“ o. ä. übersetzt worden. Man nahm an, dass ekstatische Äußerungen und Prophezeien einer kritischen Prüfung durch Vergleichen unterzogen werden mussten (z. B. „in dem wir Geistliches mit Geistlichem prüfen“ 143). Zu Recht kritisiert Dautzenberg: „Tatsächlich eine eigenartige Vorstellung. In den paulinischen Gemeinden hätte es schon eine Proto-Inquisition gegeben“. 144Dautzenberg hat ausführliche und mich überzeugende Argumente für die Übersetzung von sygkrinein (und diakrinein / diakrisis in 12,10; 14,29) als „deuten“ vorgetragen. 145Den Dativ plural pneumatikois löse ich im Blick auf 2,14.15 nicht als Neutrum, sondern als androzentrisches Maskulinum auf: Die Deutung richtet sich an „die Menschen, die von der Geistkraft erfüllt sind“.
2,14 2,14redet von psychikoi . Dieser Begriff hat zur Frage geführt, ob Paulus in seiner Vorstellung von Menschen dualistisch denkt: Die psyche qualifiziere Menschen negativ, erst das pneuma mache sie zu Menschen in Beziehung zu Gott. Doch der „psychische“ Leib ist bei Paulus der von Gott geschaffene Leib / Mensch (s. 1 Kor 15,44.45); 146und der pneumatische Leib / Mensch ist der in ein neues Leben Auferstandene mitten in den Erfahrungen der Gewalt und Erniedrigung des Alltags. „Wenn Paulus von Auferstehung spricht, hat er diese konkreten Körper vor Augen. Diesen geschundenen, verachteten, gequälten Körpern spricht er zu, dass sie wertvoll sind, Tempel der heiligen Geistkraft … (vgl. 1 Kor 6,19)“. 147
In 2,14b und 15 verwendet Paulus dreimal das Wort anakrinein . Menschen, die von Gottes Ruf nicht erreicht worden sind (2,14), fehlt das von der Geistkraft bewirkte Urteilsvermögen (anakrinein) . Deshalb halten sie die Geistkraft Gottes und die Auferstehung eines Gekreuzigten (s. 1,18) für unklug, für dumm.
2,15 2,15Von der Geistkraft erfüllte Menschen haben ein besonderes Urteilsvermögen (anakrinein) . Sie durchschauen die Herzen der Menschen 148und die Erfahrungen im Alltag. Gottes Geistkraft macht sie fähig, die Verstrickungen anderer und die eigenen Verstrickungen zu erkennen und zu verändern. Das endgültige Urteilen über Menschen aber ist allein Gott überlassen, darum können die von Geistkraft Erfüllten von niemand gerichtet werden (anakrinein), vgl. 4,1–4, auch nicht von anderen Geistmenschen. Das bedeutet nicht, dass Gemeindeglieder sich nicht selbst und gegenseitig kritisieren, denn der Brief ist ein Dokument wechselseitiger Kritik zwischen Paulus und der Gemeinde. Diese Kritik ist vom Urteil Gottes jedoch klar unterschieden. Gottes Urteil setzt der Kritik untereinander Grenzen: Die Geistkraft Gottes in den Mitmenschen ist kein Gegenstand der Kritik und Beurteilung. Doch alle Fragen der Lebensgestaltung sind in gemeinsamer Schriftauslegungsarbeit und gegenseitiger Kritik auszuhandeln.
2,16 2,16bringt den entscheidenden Gedanken des ganzen Abschnitts, das große Glück, soma Christou zu sein, noch einmal zusammenfassend zur Sprache. Paulus zitiert zunächst Jes 40,13 „Wer hat den Verstand der Ewigen erkannt …?“ Gottes Tiefen (2,10) sind allen Menschen verborgen (vgl. Röm 11,34–35). Die Antwort auf die rhetorische Frage aus Jes 40,13 in 2,16a lautet: niemand. So hat es ja auch das Zitat unbekannter Herkunft 2,9 gesagt: kein Auge hat es gesehen, kein Ohr hat es gehört. 2,16b Doch die „Wir“, der Leib Christi, sind durch Gottes Zuwendung (2,12) mit dem größten Glück beschenkt (vgl. 2,10). Als Teile des Leibes Christi sehen wir Gott von Angesicht zu Angesicht (13,12), auch wenn wir in Strukturen der Gewalt von Leiden und Tod umgeben sind. Wir sehen die Gerechtigkeit Gottes, auf die wir hoffen. Wir hören die Selbstoffenbarung Gottes in den Worten der Tora. Ohne Gotteskraft sehen die Menschen nur den Sieg der Gewalt, wenn sie auf den Gekreuzigten und die Gekreuzigten schauen; sie sagen: Es ist unklug, sich auf Solidarität mit Gekreuzigten einzulassen (2,14). Die mit Gottes Geistkraft Begabten sehen, dass der Gekreuzigte von Gott dem Tod entrissen wurde, er ist aufgestanden. Wir sehen und erfahren die Auferstehung aller Toten, auf die wir hoffen. Das alles fasst der triumphierende kurze Schlusssatz zusammen: „Wir haben den Verstand / Gedanken der Ewigen“. Paulus legt hier Wert auf das Wort nous / Verstand / Gedanken (s. auch 14,14.15 und oben zu 2,6). Die Gabe Gottes bringt Augen für die Auferstehung und für Gottes neue Schöpfung, aber auch den kritischen Verstand, der alles erforscht (2,10), auch die eigene Verstrickung in die weltweite Sünde, in die Strukturen des Kosmos (s. o. 2,6.8 und Basisinformation zu „Weisheit dieser Welt“ zu 1,17).
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