Doro zieht eine Schnute. Insbesondere, als sie sieht, dass sich der Befreite geradewegs auf die beiden Nachzügler zubewegt.
Ups, denkt Anneliese. Er will doch sicher nicht zu uns.
Aber genau das will er. Tatsächlich kommt er direkt auf sie und Ursel zu. Schnell versteckt Anneliese den Schirm hinter ihrem Rücken. Einen winzigen Spleen, das muss sie zugeben, hat sie schon. Doch davon soll Herr Nussbaum besser mal nichts mitbekommen.
»Ich dachte eben, als du … also, ich meine, als Sie eingestiegen sind, dass wir uns irgendwoher kennen«, sagt er zu Anneliese und blickt sie forschend an.
Sie zuckt mit den Schultern. Nicht dass sie wüsste.
»Bist du nicht die Frau vom Stutzer Hans aus Wiebelskirchen?«
»Ja«, antwortet Anneliese überrascht und fügt hinzu: »Also, ich war es.«
»Oh nein, das tut mir leid«, entschuldigt sich Edmund sofort. »Das wusste ich nicht, dass der Hans …« Der Busfahrer sieht betroffen aus. »Das ist traurig. Er war damals in meiner Klasse. In der Grundschule.«
»Das ist ja ein Zufall«, mischt sich eine helle Stimme in das Gespräch ein. Doro hat sich wie selbstverständlich dazugesellt. »So was, weißt du, Edmund, Anneliesel und ich kennen uns auch schon seit der Grundschule.«
Anneliese verzieht den Mund. Sie befürchtet, dass es gleich eine Wiederholung von dem geben würde, was ihr Doro damals tagtäglich angetan hat.
Und ja, in der Tat bringt die alte Klassenkameradin das Fass, das sowieso schon randvoll ist, mit ihren nun folgenden unverschämten Lügen zum Überlaufen. »Beste Freundinnen, seit vielen Jahren. Irgendwer musste dem Mädchen schließlich auf die Sprünge helfen, sonst wäre da nie etwas draus geworden. Wenn ich es damals nicht eingefädelt hätte, das mit dem Hans und der Hochzeit, wer weiß, dann wäre unser Mauerblümchen ihr Leben lang allein geblieben.«
In Annelieses Ohren rauscht es, sie ist kurz davor, an die Decke zu gehen. Aber eben nur kurz davor, denn genau genommen steht sie einfach nur da. Ohne ein Wort der Gegenwehr. Sie kann nicht fassen, was Dorothea da von sich gibt. Alles eine einzige Lüge. An dem Abend, als sie Hans auf dem Erntedankball kennengelernt hat, mit gerade einmal 19, hat Doro keine Gelegenheit ausgelassen, sich an ihn heranzuwerfen. Sogar einen Schwächeanfall täuschte die Schlange vor, als gar nichts mehr zu helfen schien. Zum Glück ließ sich Hans von all dem Getue nicht beeindrucken. Er brachte Anneliese an diesem Abend nach Hause. So wie er es an jedem Abend, der daraufhin folgte, gemacht hat, bis sie schließlich miteinander verheiratet waren.
»… die Anneliesel war immer schon ein bisschen wunderlich. Sag nur, du hast wieder deinen Schirm dabei?«, trötet Doro in dem Moment, als ein großer, sportlich wirkender Mann mit gelbem Helm und grauer Arbeitsjacke durch die Eingangstür des flachen Gebäudes auf sie zukommt und das miese Schauspiel unterbricht.
»Guten Morgen, ich bin Herr Lohfeld und werde die nächste Stunde mit Ihnen in meiner Höhle verbringen«, scherzt dieser und die Damengruppe kichert. Der Ausdruck in Edmunds Gesicht zeugt davon, wie erleichtert er ist, dass in diesen Sekunden ein zweiter Mann die Aufmerksamkeit auf sich zieht. Insbesondere die von Doro, denn Herr Lohfeld, schätzungsweise Anfang 70, leicht sonnengebräunt, mit angegrautem, gut getrimmtem Vollbart und nicht unattraktiv, trägt keinen Ring an seiner Hand. Der tut mir jetzt schon leid, denkt Anneliese, und tatsächlich dauert es nicht lange, bis Doro die Chance ergreift.
»Einen Mann mit eigener Höhle wollte ich immer schon mal kennenlernen«, tönt es aus ihrem Mund. Kurz danach folgt Lottes »Doro!«, was ihre Freundin noch nie bremsen konnte.
Dorothea ist mit ein wenig Vordrängeln die Erste an der Kasse, an der die Helme ausgeteilt werden. »Finden Sie, der steht mir?«, fragt sie Herrn Lohfeld, während sie das gelbe Ding über ihre Locken zwängt.
Der Führer zuckt mit den Schultern. »Wie Sie damit ausschauen, ist mir ehrlich gesagt recht schnuppe. Hauptsache, Sie sind geschützt. Was allerdings Ihr Schuhwerk angeht, da bin ich mir nicht so sicher, ob das die richtige Wahl ist.«
»Ach was«, zeigt sich Dorothea uneinsichtig. »Ich bin wie die jungen Models. Ohne Absätze kann ich gar nicht richtig gehen.«
Herr Lohfeld schnauft genervt. »Wie Sie meinen. Ich habe Sie gewarnt.«
»Aber charmant finde ich schon, dass Sie so besorgt um mein Wohl sind«, trötet Dorothea und richtet dabei mit den Händen die Locken, die unter dem Helm hervorspitzen.
Ihr Gegenüber spart sich eine Antwort darauf und sagt stattdessen: »Höchste Zeit, wir müssen los.«
Nach und nach setzt sich die Gruppe in Bewegung. Edmund Nussbaum steht immer noch neben Anneliese und wartet. »Eine Sekunde bitte, Frau Stutz«, sagt er, als Anneliese und Ursel an ihm vorbeigehen wollen.
»Ja?«
Ursel zeigt in Richtung der Gruppe. Sie geht schon mal vor, soll das heißen.
»Also, das mit Ihrem Hans tut mir wirklich leid. Er war ein feiner Bursche. Schade, dass wir uns nicht früher kennengelernt haben. Meine Margot hätte Sie bestimmt gemocht.«
»Ja, schade. Hans hat öfter Geschichten von einem Eddie erzählt – das müssen wohl Sie gewesen sein.«
»Ach, das ist schön. Vielleicht hat er damit wirklich mich gemeint.« Der Busfahrer lächelt verlegen und schaut zur Gruppe hinüber. »Wir sollten uns auch schnell einen Helm besorgen. Sonst gehen wir leer aus.«
Anneliese nickt.
»Hier stehen wir nun in den größten Sandsteinhöhlen Europas«, berichtet der Führer, als sich alle um ihn versammelt haben. »Die Höhlen selbst sind ein ehemaliges Bergwerk. Eine von Hand geschaffene unterirdische Welt, die aus unzähligen Gängen und Räumen besteht.« Mit der Taschenlampe leuchtet der Führer zur Decke. »Hier wurde Quarzsand zur Glasherstellung abgebaut. In späteren Zeiten nutzten die Franzosen die Höhlenräume als Waffenlager und erweiterten das Tunnelsystem. Im Zweiten Weltkrieg dienten sie als Schutzraum bei Luftangriffen. Mehr als 1.000 Menschen sollen an diesem Ort ausgeharrt haben.«
Ehrfürchtig schauen sich die Landfrauen um und bewundern die hohen Decken und die Wände mit den beeindruckenden roten und gelben Gesteinsschichten.
Herr Lohfeld führt die Gruppe tiefer in das Höhlensystem und fährt dabei fort: »Insbesondere in den kalten Wintermonaten waren die Menschen in diesen Räumen gut untergebracht, denn es herrscht eine gleichbleibende Temperatur von rund zehn Grad. Ein Umstand, der meine Arbeit als Führer an heißen Sommertagen zu einem wahren Glücksfall macht«, fügt er mit einem Lächeln hinzu und leuchtet mit seiner Lampe die interessantesten Winkel der Höhle aus. »Folgen Sie mir bitte, nun geht es in den Thronsaal.«
»Gibt es denn da auch eine Höhlenkönigin?«, fragt eine helle Stimme, an die sich ein schockiertes »Doro!« anschließt.
»Ja, tatsächlich gab es die«, stimmt Herr Lohfeld zu, dem deutlich anzumerken ist, dass ihm die Art und Weise, wie sich Dorothea in den Mittelpunkt drängt, nicht behagt. »Allerdings waren das immer, nun ja … eher jüngere Frauen.«
Er grinst. Doros Miene hingegen verfinstert sich, jedoch nur für einen flüchtigen Augenblick. Ihre Selbstgefälligkeit ist immer schon durch nichts zu erschüttern gewesen, denkt Anneliese. Sie geht vor Edmund her, der sich der Gruppe als Letzter angeschlossen hat.
»Na ja, früher«, plappert Doro abermals los. »Früher zählte eine Frau mit 70 auch schon zum alten Eisen. Die Zeiten haben sich geändert.«
Statt etwas zu erwidern, drückt Herr Lohfeld auf einen Knopf an der Beleuchtungsanlage, der die Decke erstrahlen lässt. Die Damen drehen ihre Köpfe nach oben.
»In den 60ern fanden in diesem großen Saal regelmäßig gut besuchte Höhlenfeste statt«, erklärt der Führer. »Wir befinden uns nun übrigens etwa 47 Meter unter dem Schlossberghotel.«
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