Nachzutragen ist, dass das Klavier, von Holzwürmern befallen, später mit lautem, unmusikalischem Geklirr in einem Container landete.
Jetzt muss ich also zu ihr und sie nach diesem und jenem befragen. Ich bin unerklärlich nervös deswegen. Warum sollte ich nervös sein? Ich glaube, weil sie so viel älter ist als ich und, obwohl sie zu tiefem Schweigen neigt, eine äußerst angenehme Gesellschaft, so wie eine ältere Kollegin, die man verehrt. Ich glaube, das ist es. Vielleicht auch, weil ich den Verdacht habe, dass sie mich ebenso gern mag wie ich sie. Dabei wüsste ich nicht einmal, weshalb sie mich mag. Ich habe mir eine Neugier auf sie bewahrt, bin aber nie in ihr Leben eingetaucht, was man mir als professionellem Psychiater wohl anlasten könnte. Dennoch, so ist es nun einmal, sie mag mich. Doch um nichts in der Welt würde ich diese Zuneigung, deren Grundlage, meine ich, erschüttern wollen. Ich muss also vorsichtig zu Werke gehen.
Roseannes Selbstzeugnis
Wie gern würde ich sagen, ich hätte meinen Vater so sehr geliebt, dass ich ohne ihn nicht hätte leben können, aber ein solches Eingeständnis würde sich mit der Zeit als falsch erweisen. Diejenigen, die wir lieben, diese unentbehrlichen Wesen, werden uns entrissen nach dem Willen des Allmächtigen oder der Teufel, die sich seines Thrones bemächtigt haben. Es ist, als würde uns bei ihrem Tod ein riesiger Bleiklumpen auf die Seele gelegt, und wenn diese Seele vorher schwerelos war, so ist sie jetzt eine verborgene und verderbliche Last in unserem Innersten.
Als ich etwa zehn war, nahm mich mein Vater in einem Anfall von Erziehungswut mit in die Spitze des hohen, schlanken Turmes auf dem Friedhof. Es war einer jener schönen, stolzen, grazilen Bauten, die die Mönche in Zeiten der Gefahr und der Verheerung errichtet hatten. Er stand in einer mit Brennnesseln bewachsenen Ecke des Friedhofs und wurde nicht weiter beachtet. Wer in Sligo aufgewachsen war, für den war er einfach da. Aber zweifellos war er eine unvergleichliche Kostbarkeit, erbaut mit nur einem Hauch von Mörtel zwischen den Steinen, deren jeder der Krümmung des Turmes folgte und von den Maurern des Mittelalters mit größter Präzision eingefügt worden war. Natürlich war es ein katholischer Friedhof. Mein Vater hatte seine Anstellung nicht aufgrund seiner Konfession erhalten, sondern weil er bei jedermann in der Stadt beliebt war und die Katholiken nichts dagegen einzuwenden hatten, dass ihre Gräber von einem Presbyterianer ausgehoben wurden, solange dieser nur sympathisch war. Denn zu der Zeit herrschte zwischen den Kirchen oft besseres Einvernehmen, als wir meinen, und oft wird vergessen, dass, wie mein Vater oft betonte, die anderen von der anglikanischen Staatskirche abweichenden Bekenntnisse unter den Strafgesetzen längst verflossener Tage eben so zu leiden hatten wie das katholische. Dort, wo Freundschaft besteht, gibt es jedenfalls nur selten Schwierigkeiten mit der Konfession. Erst später wurde der Unterschied zum Abgrenzungsmerkmal. Zumindest weiß ich, dass der katholische Gemeindepfarrer, ein kleiner, forscher, flinker Mann namens Father Gaunt, der später, in meiner eigenen Geschichte, eine so große Rolle spielen sollte, falls ein kleiner Mann eine große Rolle spielen kann, ihn sehr gut leiden mochte.
Es war die Zeit kurz nach dem Ersten Weltkrieg, und in den Schützengräben der Geschichte befasst sich der Verstand vielleicht mit Merkwürdigkeiten, mit erzieherischen Verschrobenheiten wie jener, auf die er es an jenem Tag mit mir abgesehen hatte. Andernfalls könnte ich mir nicht erklären, weshalb ein erwachsener Mann sein Kind zusammen mit einem Sack voll Hämmer und Federn in die Spitze eines alten Turmes mitnehmen sollte.
Ganz Sligo – Fluss, Kirchen, Häuser – breitete sich strahlenförmig vom Fuß des Turmes aus, zumindest hatte es von der kleinen Fensteröffnung in der Spitze den Anschein. Ein vorüberfliegender Vogel hätte zwei aufgeregte Gesichter sehen können, die gleichzeitig hinaus zuspähen versuchten. Ich verlagerte mein Gewicht auf meine Zehen und stieß dabei gegen die Unterseite seines Kinns.
»Roseanne, liebstes Kind, ich hab mich heute Morgen schon rasiert, und dir mit deinem Goldschopf wird das ohnehin nicht gelingen.«
Denn es stimmte, dass ich weiches Haar hatte, das schimmerte wie Gold – wie das Gold jener Mönche. Golden wie der Glanz alter Buchkunst.
»Papa«, sagte ich, »lass endlich die Hämmer und die Federn fallen und lass uns sehen, was dabei herauskommt.«
»Ach«, sagte er, »ich bin müde vom Aufstieg, wir wollen erst unsere Blicke über Sligo wandern lassen, bevor wir unser Experiment in Angriff nehmen.«
Er hatte abgewartet und einen windstillen Tag für sein Vorhaben ausgewählt. Er wollte mir die uralte Prämisse beweisen, dass im Reich der Theorie alle Körper dieselbe Fallgeschwindigkeit haben.
»Alle Körper fallen gleich schnell«, hatte er gesagt, »im Reich der Theorie. Und ich werde es dir beweisen. Ich werde es mir selbst beweisen.«
Wir hatten vor dem knisternden Kohlenfeuer gesessen.
»Alle Körper mögen gleich schnell fallen, wie du sagst«, meldete sich meine Mutter aus ihrer Ecke des Zimmers zu Wort. »Aber nur selten steigt einer auf.«
Ich glaube nicht, dass dies eine Stichelei war, eher eine Feststellung. Jedenfalls blickte er mit jener vollkommenen Gemütsruhe zu ihr hinüber, die sie selbst so meisterlich beherrschte und die sie ihn gelehrt hatte.
Es kommt mir seltsam vor, dies alles hier in diesem dunkel gewordenen Zimmer aufzuschreiben, es mit blauer Kugelschreibertinte hinzukritzeln, die beiden vor meinem geistigen Auge oder irgendwo hinter den Augen, in der verdüsterten Schale meines Schädels, zu sehen, noch immer präsent, wahrhaft lebendig und gesprächig, als sei ihre Zeit die wahre Zeit und meine nur eine Illusion. Und zum tausendsten Mal rührt es mein Herz, zu sehen, wie schön sie ist, wie geschmackvoll, wie liebenswürdig und leuchtend, mit ihrem Southamptoner Akzent, der den Kieseln am Strand gleicht, wenn die Wellen sie hin und her rollen, ein weiches Rascheln und Rauschen, das in meinen Träumen nachklingt. Allerdings stimmt es auch, dass sie mich, wenn ich ungezogen war, wenn sie Sorge hatte, mein Pfad könnte von dem Pfad abweichen, den sie für mich ausersehen hatte, zu verprügeln pflegte, selbst bei nichtigen Anlässen. Aber damals war es eine Selbstverständlichkeit, Kinder zu schlagen.
Jetzt also rangelten unsere beiden Gesichter um den besten Platz, eingerahmt von dem alten Rahmen des kleinen Guckfensters der Mönche. Welche längst verschwundenen Gesichter hatten dort hinausgespäht, welche unter ihren Kapuzen schwitzenden Mönche hatten zu erkennen versucht, wo die Wikingerhorden waren, die kommen würden, sie zu morden und ihnen ihre Bücher, ihre Gefäße und ihre Münzen zu rauben? Kein Maurer überlässt den Wikingern gern ein großes Fenster, und jenes Fenster zeugte noch immer von alter Angst und Gefahr.
Nach einiger Zeit war klar, dass sich sein Experiment unmöglich durchführen ließ, solange wir alle beide dort standen. Einer von uns würde das Ergebnis verpassen. So schickte er mich allein über die feuchte steinerne Treppe nach unten, und noch heute kann ich das nasse Gemäuer unter meiner Hand spüren und das seltsame Entsetzen, von ihm getrennt zu sein, das mich erfasste. In meiner kleinen Brust schlug es so heftig, als sei eine furchtsame Taube darin gefangen.
Ich trat aus dem Turm und stellte mich, wie er mir aus Angst, die herabfallenden Hämmer könnten mich erschlagen, befohlen hatte, ein Stück vom Sockel entfernt auf. Von unten wirkte der Turm riesig, an jenem Tag schien er bis zu den schmutzig grauen Wolken aufzuragen. Bis in den Himmel. Kein Lüftchen regte sich. Die verwilderten Gräber dieses Friedhofsabschnitts, die Gräber von Männern und Frauen eines Jahrhunderts, als die Menschen sich nur unbehauene Steine leisten konnten, auf denen kein Name geschrieben stand, wirkten nun anders, da ich allein war, ganz anders, so als könnten sich die armen Gerippe gegen mich erheben und mich in ihrem ewigen Hunger verschlingen. Als ich so auf dem Rasen stand, fühlte ich mich wie ein Kind auf einer Felsenklippe, wie in jener Szene aus dem alten Stück König Lear, in der der Freund des Königs sich einbildet, von einem Felsvorsprung hinabzustürzen, obwohl dort gar kein Felsvorsprung ist. Wenn man es liest, glaubt man selbst daran, dass es einen solchen Felsvorsprung gibt, und stürzt zusammen mit dem Freund des Königs hinab. Aber pflichtgetreu, pflichtgetreu, liebevoll, liebevoll schaute ich hinauf. Es ist kein Verbrechen, den eigenen Vater zu lieben, es ist kein Verbrechen, keine Kritik an ihm üben zu wollen – und immerhin kannte ich ihn bis in die Anfangsjahre meines Frauseins, oder doch fast, in jenen Jahren also, wenn ein Mädchen dazu neigt, von seinen Eltern enttäuscht zu sein. Es ist kein Verbrechen, zu spüren, wie das eigene Herz ihm entgegenschlägt, oder doch dem biss chen, das ich von ihm sehen konnte, denn jetzt ragte sein Arm aus der kleinen Fensteröffnung, und der Sack hing in der irischen Luft. Jetzt rief er mir etwas zu, und ich konnte seine Worte kaum verstehen. Doch nach ein paar Anläufen glaubte ich ihn sagen zu hören:
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