Die andere »berühmte« Geschichte meines Vaters – berühmt meint: in unserem winzigen Haushalt – ereignete sich während seiner Junggesellentage, als er noch häufiger an den wenigen Motorradrennen jener Zeit teilnehmen konnte. Sie trug sich in Tullamore zu und ist eine höchst sonderbare Geschichte.
Er fuhr mit Karacho, und vor ihm lag ein lang gestreckter, breiter Hügel, der zu einer scharfen Kurve führte, wo die Straße auf eine Gutsmauer stieß, eine jener hohen, dicken Steinmauern, die während der Großen Hungersnot erbaut worden waren, eine überflüssige Arbeit, um Tagelöhner am Leben zu erhalten. Wie auch immer, der Rennfahrer vor ihm brauste den Hügel hinab und gewann ungeheuer an Fahrt, doch statt vor der gegenüberliegenden Mauer abzubremsen, schien er sogar noch Gas zu geben und zerschellte schließlich gnadenlos in einem schrecklichen Wirrwarr aus Rauch, Metall und einem Donner wie von Kanonen. Mein Vater, der durch seine schmutzige Schutzbrille spähte, hätte beinahe die Kontrolle über seine eigene Maschine verloren, so sehr war ihm der Schreck in die Glieder gefahren; doch dann sah er etwas, das er sich damals nicht und auch später nie zu erklären vermochte, nämlich den Motorradfahrer, der sich wie auf Schwingen emporhob und mit einer raschen, sachten Bewegung, schwerelos gleitend wie eine Möwe im Aufwind, über die riesige Mauer hinwegsegelte. Einen Augenblick lang, nur einen Augenblick lang glaubte er die Schwingen aufblitzen zu sehen, und nie wieder konnte er in seinem Gebetbuch von Engeln lesen, ohne an jenen außergewöhnlichen Vorfall zu denken.
Bitte glauben Sie nicht, dass mein Vater sich etwas zurechtlog, denn dazu war er gar nicht imstande. Zwar trifft es zu, dass die Leute in ländlichen Bezirken – ja selbst in den Städten – einem gern weismachen, sie hätten Wunder geschaut, wie etwa mein Mann Tom, der auf der Straße nach Enniscrone einen Hund mit zwei Köpfen gesehen haben wollte. Ebenso trifft es zu, dass derartige Geschichten nur dann wirkungsvoll sind, wenn der Erzähler unbedingten Glauben vortäuscht – oder wenn er tatsächlich Zeuge solcher Wunder wurde. Doch mein Vater war kein Lügenzauberer und Fabulierer.
Es gelang meinem Vater, sein Motorrad abzubremsen und zum Stehen zu bringen, und als er die Gutsmauer entlangrannte, stieß er auf eine jener sonderbaren kleinen Pforten im Gemäuer. Er stemmte sich gegen das rostige Eisen und eilte durch Brennnesseln und Sauerampfer, um seinen wundersamen Freund zu suchen. Dort lag er denn auch, auf der anderen Seite der Mauer, bewusstlos, aber sonst, und mein Vater schwor Stein und Bein darauf, unverletzt. Schließlich kam der Mann, zufälligerweise ein Herr aus Indien, der an der gesamten Westküste mit seinem Koffer von Tür zu Tür zog und Halstücher und andere Artikel feilbot, wieder zu sich und lächelte meinen Vater an. Beide staunten über seine unerklärliche Rettung, die, wen wundert’s, in Tullamore noch Jahre später Stadtgespräch war. Sollte Ihnen die Geschichte je zu Ohren kommen, so könnte der Erzähler ihr sehr wohl den Titel »Der indische Engel« geben.
Wieder einmal war das seltsame Glücksgefühl meines Vaters vor allem in der Wiedergabe dieser Geschichte greifbar. Es war, als sei ein solcher Vorfall eine Belohnung für ihn, für seine bloße Existenz, ein kleines Erzählgeschenk, welches ihn so freute, dass es ihm im Träumen und im Wachen ein Gefühl des Privilegiertseins verlieh, so als setzten sich kleine Fetzen von Geschichten und Ereignissen für ihn zu einem unfertigen Evangelium zusammen. Sollte jemals ein Evangelium über das Leben meines Vaters verfasst werden – und warum nicht? schließlich heißt es, in den Augen Gottes sei das Leben eines jeden Menschen kostbar –, möchte ich annehmen, dass die Schwingen auf dem Rücken seines indischen Freundes, die er nur flüchtig zu sehen bekommen hatte, sich zu etwas Stofflicherem auswachsen und Dinge, die er nur angedeutet hatte, in der Nacherzählung durch einen Dritten feste Gestalt annehmen würden, unbeweisbar zwar, doch dafür um so mehr ins Reich der Wunder verwiesen. Auf dass alle Welt darin Trost finden möge.
Das Glücksgefühl meines Vaters. Es war an sich schon ein kostbares Geschenk, so wie vielleicht die Ängstlichkeit meiner Mutter der Knüppel war, der ihr andauernd zwischen die Beine geworfen wurde. Denn meine Mutter erfand niemals kleine Legenden über ihr Leben und kam ganz und gar ohne Geschichten aus, obwohl ich mir sicher bin, dass sie ebenso viele interessante Dinge zu erzählen gehabt hätte wie mein Vater.
Es ist schon seltsam, aber mir fällt auf, dass Menschen ohne Anekdoten, die sie zu ihren Lebzeiten nähren und die sie nach ihrem Tod überdauern, nicht nur der Geschichte, sondern auch den nachfolgenden Generationen eher abhanden kommen. Natürlich ist dies das Los der meisten Menschenseelen: Ganze Leben, ganz gleich, wie intensiv und wunderbar, schrumpfen auf jene traurigen schwarzen Namen in welken Familienstammbäumen zusam men, hinter denen nur ein halbes Datum und ein Fragezeichen baumeln.
Das Glücksgefühl meines Vaters rettete ihn nicht nur, sondern trieb ihn zu Geschichten an und erhält ihn selbst jetzt noch in mir am Leben, wie eine zweite, geduldigere und anziehendere Seele in meiner armen Seele.
Vielleicht war sein Glücksgefühl ja durchaus unbegründet. Aber darf sich ein Mensch in den langen, sonderbaren Läuften seines Lebens nicht, so gut es geht, selbst glücklich machen? Ich halte das für legitim. Schließlich ist die Welt ja wirklich wunderschön, und wenn wir keine Menschen wären, sondern andere Geschöpfe, so könnten wir sehr wohl dauerhaft glücklich in ihr sein.
Das wichtigste, ohnehin schon enge Zimmer in unserem kleinen Haus teilten wir mit zwei großen Gegenständen. Einer davon war das bereits erwähnte Motorrad, das bei Regen untergestellt werden musste. Es führte in unserem Wohnzimmer ein ruhiges Leben, könnte man sagen. Von seinem Sessel aus konnte mein Vater, wann immer er wollte, müßig ein weiches Ledertuch über das Chrom gleiten lassen. Der andere Gegenstand, den ich erwähnen möchte, ist das Pianino, das ihm ein dankbarer Witwer vermacht hatte, da mein Vater für die Frau dieses Mannes eine Grube ausgehoben hatte, ohne Gebühren zu verlangen, denn die Hinterbliebenen waren in Not geraten. So war das Pianino in einer Sommernacht bald nach der Beerdigung auf einem Eselskarren eingetroffen, von dem Witwer und seinen beiden Söhnen unter verlegen frohem Lächeln hereingetragen und in unserem winzigen Zimmer aufgestellt worden. Vermutlich war es nie viel wert gewesen, trotzdem hatte es einen wunderschönen Klang und war, bevor es zu uns kam, noch nie gespielt worden, sofern sich seine Vorgeschichte am Zustand der Tasten ablesen ließ, die völlig unberührt aussahen. An den Seitenwänden waren Landschaftsszenen aufgemalt, nicht aus Sligo, vermutlich eher Szenen aus einem imaginären Italien oder dergleichen, aber im Grunde lief es auf das Gleiche hinaus: Berge und Flüsse mit Schäfern und Schäferinnen, die mit ihren geduldigen Schafen umherstanden. Mein Vater nun, der im Pfarramt seines Vaters aufgewachsen war, konnte dieses prächtige Instrument spielen und fand, wie bereits gesagt, Vergnügen an den alten Operetten des vorigen Jahrhunderts. Balfe hielt er für ein Genie. Da es neben ihm auf dem Hocker Platz für mich gab, begann ich aus Liebe zu ihm und aus großer Freude an seiner Spielfertigkeit alsbald die Anfangsgründe des Klavierspiels zu erlernen und erlangte allmählich eine gewisse Fertigkeit, ohne je das Gefühl von Mühe oder Last empfunden zu haben.
Dann konnte ich ihn begleiten, und er pflanzte sich mitten im Raum auf, sofern man noch davon sprechen konnte, die eine Hand müßig und wie zufällig auf dem Sitz seines Motorrads, die andere in seinem Jackett wie ein irischer Napoleon, und sang, für mich hörte es sich jedenfalls so an, mit größter Vollkommenheit »Im Traume sah ich mich im Marmorsaal« oder andere Glanzstücke seines Repertoires, und übrigens auch jene kleinen neapolitanischen Lieder, die natürlich nicht, wie ich mir einbildete, zum Gedenken an Napoleon, sondern in den Straßen von Neapel entstanden waren – Lieder, die sich jetzt in Sligo im Exil befanden! Seine Stimme drang wie eine Art Honig in meinen Kopf, der mächtig summend nachwirkte und alle Ängste der Kindheit bannte. Hob sich seine Stimme, so hob sich zugleich sein ganzer Körper: Arme, Schnurrbartenden, ein Fuß, der ein kleines bisschen über dem alten Teppich mit seinem vielfachen Hundemuster pendelte, und seine Augen waren erfüllt von einer seltsamen Fröhlichkeit. Selbst Napoleon mit seinen hohen Ansprüchen hätte ihn nicht verachtet. In solchen Augenblicken entfaltete er in den ruhigeren Passagen der Lieder ein herrliches Timbre, das ich bis heute nicht überboten gehört habe. Als ich eine junge Frau war, machten sich viele herausragende Sänger auf den Weg nach Sligo und sangen in den Sälen unter dem Regen, und bei einigen der volkstümlicheren Lieder begleitete ich sie sogar auf dem Klavier und klimperte Töne und Akkorde für sie, vielleicht eher Hindernis als Hilfe. Doch in meinen Ohren reichte keiner von ihnen an die Stimme meines Vaters und deren eigentümliche Intimität heran.
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