Sebastian Barry
Aus dem Englischen von Claudia Glenewinkel und Hans-Christian Oeser
Roman Steidl
Für Derek Johns
Cover
Titel Sebastian Barry Aus dem Englischen von Claudia Glenewinkel und Hans-Christian Oeser Roman Steidl
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebentes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Fünfzehntes Kapitel
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Impressum
Ach, Kelsha ist ein abgelegener Ort, hinter den Bergen, ganz gleich, von wo man kommt. Man muss über die Berge, um dorthin zu gelangen, und schließlich durch Träume.
Ich kann die beiden Kinder noch vor mir sehen, bei ihrer Ankunft, in ihre Mäntel gehüllt. Der Sommer hat gerade begonnen, und all die Rituale des Winters und des Frühlings liegen hinter uns. Nicht, dass sich um diese Rituale heute noch jemand schert.
Mein Großneffe und meine Großnichte, Bezeichnungen, die nach den Kindern eines russischen Zaren klingen.
Mein Holzapfelbaum scheint über ihre Ankunft zu wachen, wie ein armer Mann, der seit Ewigkeiten mit der Mütze in der Hand auf Almosen wartet. In den Buchen und in der Esche rauscht es, und die Hühner gackern ihre kleine Musik. Shep springt umher wie ein Kind bei einem Tanz, mit seinem zweiten Fell aus Torfschlamm und den gelben Abwässern, die auf Höfe sickern, wo die Hunde so gern dösen.
Die Mäntel der Kinder sind sehr schöne Mäntel, Stadtmäntel. Was Mäntel betrifft, ist ihre Mutter nicht nachlässig, was immer ich sonst noch über sie sagen könnte. Doch für das Leben auf einer Farm sind sie zu schön. Wir werden sie in altes Packpapier einschlagen, sie in dem kleinen blauen Schrank in ihrem Zimmer verwahren und, so gut es geht, die Motten von ihnen fernhalten.
Durch den unteren Teil der Halbtür treibe ich die Kinder wie Kälbchen ins schöne Dämmerlicht der Küche. Auf dem blank gescheuerten Tisch stehen die riesigen Sandwiches bereit, balancieren wie verformte Brettchen auf blau-weißen Tellern. Worte werden gesprochen, und ich spüre den großen Respekt, den Sarah dem Vater der Kinder entgegenbringt, Trevor, meinem feinen Neffen mit dem sonderbaren, englisch klingenden Namen, prachtvoll in seinem grünen Künstleranzug. Sein mächtiger roter Bart, sein glatt nach hinten gekämmtes Haar, ganz wie ein Pariser Intellektueller, ein gutaussehender Mann mit dunkelbraunen zornigen Augen. Er reicht ihr ein paar Geldscheine, die sollen uns helfen, die Kinder durch den Sommer zu bringen. Ich bin stolz darauf, dass sie ihn so achtet, und stolz auf ihn, weil ich ihn großgezogen habe, damals, als meine Schwester verrückt geworden war. Meine arme Schwester Maud, die am Ende nur noch Unsinn vor sich hin brabbeln konnte.
Trevor und die Mutter der Kinder haben Großes vor, sie wollen übers Meer nach London, um zu sehen, welche Möglichkeiten sich dort bieten. Hier, in seinem eigenen Land, warten nur faulige Tümpel auf ihn, nichts, was ihn locken könnte. Mit Hilfe eines Stipendiums hat er sich weitergebildet, und ich kann den Geruch der Hoffnung an ihm riechen, den Mantel des jungen Mannes. Aber seine Hoffnung ist stark und echt. Ich bin sicher, dass er für sich und die Seinen ein Plätzchen finden wird, wo sie wohnen können und von wo aus er sich umtun und eine Anstellung finden kann. Er hat die unbedingte Entschlossenheit seines Großvaters, der vom einfachen Polizeirekruten zum Chief Superintendent der B Division in Dublin, der Hauptstadt des ganzen Landes, aufgestiegen war.
Sein Vater Matt, Mauds Ehemann, der mich so gut wie aus dem Haus geworfen hat, als sie schließlich starb, mag sich in seinen glänzend gewienerten Schuhen jeden Morgen von dem gemieteten Haus in Donnybrook zu den wilden Außenbezirken von Ringsend schleppen, wo er Kindern, die dem Unterricht so begeistert folgen, als müssten sie Ohrenkneifer verspeisen, Malen und Zeichnen beibringt. Hin und zurück auf dem schwarzen Fahrrad mit der Winterlampe und der kaum zu hörenden Klingel, in Gedanken nur beim Sommer, wenn er, sein Schicksal verfluchend, wieder die mückenverseuchte Schönheit von Wicklow malen kann.
Aber Trevor mit seinem roten Bart hat die Stärke und die Zielstrebigkeit einer anderen Generation.
Jetzt küsst er die Kinder auf den Scheitel und sagt auf Wiedersehen, benehmt euch, wir sehen uns in ein paar Monaten.
»Ich schreib dir jeden Tag«, sagt der kleine Junge, was lustig ist, denn er ist noch viel zu jung, um schreiben zu können. Doch der Vater hört seinem Sohn gar nicht zu, er starrt ins Leere, zweifellos abgelenkt von all den Dingen, die noch zu erledigen sind, den Vorkehrungen, den Fahrkarten, den Gebeten, die sich, so will ich meinen, ungefragt einstellen werden, obwohl er, wie ich weiß, beteuert, ein gottloser Mann zu sein, einer von dieser modernen Sorte, um den ich bangen würde, wenn nicht er es wäre.
»Jeden Tag, jeden Tag«, wiederholt der Junge entschieden.
»In meinem Poesiealbum werd ich den ganzen Sommer über Blumen für dich pressen«, sagt das kleine Mädchen. »Hier gibt’s sowieso niemand, der mir was reinschreiben könnte.«
»Passt auf euch auf in London«, sage ich zu ihm. »Und um die Kinder müsst ihr euch keine Sorgen machen. Ihr werdet genug damit zu tun haben, euch einzurichten.«
»Sobald alles an seinem Platz ist, lassen wir die Kinder nachkommen«, sagt Trevor. »Danke, Tante Annie. Das ist eine große Hilfe.«
»Es ist weiß Gott keine Mühe. Wir sind froh, sie hier zu haben.«
»Verwöhn sie nicht«, sagt er.
»Nein. Aber wir werden uns gut um sie kümmern.«
»Schön«, sagt Trevor, gibt mir einen Kuss auf die Wange und ist schon fort, hinaus ins schwache Sonnenlicht. Er schaut nicht zurück, obwohl die Kinder zur Tür eilen.
»Kommt jetzt rein«, sage ich für den Fall, dass sie ihren Vater plötzlich lautstark vermissen – so, als würde jemand unerwartet das Radio aufdrehen, »wir zeigen euch eure Betten, und ihr könnt eure Siebensachen in die Schubladen räumen, dann ist alles tipptopp.«
Wir alle, Sarah und ich und die Kleinen, hören, wie das Auto im Rückwärtsgang von unserem unebenen Hof wieder auf den Feldweg nach Kiltegan biegt. Das Glen of Imaal wird er meiden, weil er sich zu Recht vor den ausgefahrenen Straßen fürchtet. Ach, in diesen einsamen Gegenden leben sie noch in einer anderen, längst vergangenen Zeit, dort zeigt kein Kalender das Jahr 1959 an.
»Sarah und ich haben euer altes Zimmer geputzt«, sage ich mit sanfter Stimme.
Einen Augenblick lang wissen sie nicht vor noch zurück, wie Vieh, das in der Lücke zwischen zwei Weiden steht.
»Wenn ihr nicht bei uns seid, ist das alte Zimmer voller Spinnweben. Obwohl wir erst im April im ganzen Haus ordentlich Frühjahrsputz gemacht haben. Ich habe die Wände frisch gekalkt, also kommt mit euern schönen Sachen nicht dagegen, sonst gibt’s Streifen. Seit zwei Tagen ist das Feuer an, und die Matratzen sind gelüftet, so wie’s euch gefällt.«
Das Zimmer ist karg, das Zimmer ist kahl. Auf dem Kaminrost schwelt ein Häufchen brauner Torfsoden, an dessen Rändern ein granatrotes Feuer glimmt. Das Fenster ist klein wie eine Eule und rahmt den Wildwuchs der Esche, den dichten Schopf aus neuen Trieben, die unten der Wurzel entsprießen.
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