Der Kamin ist nur ein Loch mit einem schmalen Streifen lackierten Eisens als Sims. Nichts tickt in diesem Raum, die große Uhr hängt in der Küche.
»Wohnen die Mäuse noch über uns, Tante Anne?«, fragt der Junge, und ich kann spüren, wie er den Sprung macht, den kleinen Sprung auf uns zu. Er nennt mich Tante Anne wie sein Vater, fällt mir auf, obwohl ich in Wahrheit seine Großtante bin. Es ist wie ein Kompliment.
»Die Mäuse?«, frage ich zerstreut, während ich ihre wenigen Kleidungsstücke in die Schubladen räume, die nach Mottenkugeln riechen und nach den Säckchen mit Knöchelchen getrockneter Kräuter. Ich verspüre die Erleichterung wie einen Luxus, wie einen Riegel Schokolade. »In diesem Haus hat es immer schon Mäuse gegeben.«
»So«, sage ich, als die Sachen ordentlich verstaut sind, »jetzt seid ihr Leute aus Wicklow. Und das ist euer Nest. Es ist schön, wieder Küken im Nest zu haben. Ich hoffe, ihr werdet diese alten Knochen nicht allzu sehr strapazieren. Und jetzt ab in die Küche, da gibt’s was zu essen.«
Sie wissen nichts von alten Knochen. Sie folgen mir brav in die Küche. Die ganze Welt ist neu für sie, und nur wenig, wenn überhaupt etwas, kommt ihnen hässlich vor. Nichts ist alt. Sie wissen nicht, wie anstrengend es ist, Kinder zu hüten.
In letzter Zeit werde ich gegen Ende des Tages immer langsamer, wie eine Uhr, die aufgezogen werden muss. Meine Bewegungen lassen nach, und ich greife mit möglichst geringem Kraftaufwand nach den Dingen. Selbst meine Worte dehnen sich. Plötzlich erfasst mich die Angst, wir könnten zu alt sein, um auf die beiden Kleinen aufzupassen. Hundert Pflichten, und nun zwei Wesen, so energiegeladen wie eine Dampflokomotive.
Doch die Angst vergeht, und ein Gefühl tiefster Zufriedenheit, freudigster Erwartung stellt sich ein. Zwei kleine Kinder in einer kleinen Küche auf dem Land, wie sie sich über die riesigen Sandwiches hermachen. Die Steinplatten unter unseren Füßen sind zu einem beeindruckend dunklen Grün poliert. Die Anrichte an der Wand neben der Tür zu meinem und Sarahs Schlafzimmer ragt, wenn man am Feuer sitzt, hoch hinter einem auf. Darin steht das Geschirr, unser ganzer Stolz, ein ziemlich schlichtes Service, die angeschlagenen Teile ausrangiert auf dem obersten Bord. Lange, gekerbte Holzleisten hindern die Teller am Herabfallen. Nur zwei Bücher finden sich dort, beide dick und in dunkelbraunes Papier eingeschlagen – die Familienbibel meines Vaters und die Gesammelten Werke von William Shakespeare, Seite an Seite wie ein Zwillingspaar.
In diesem Raum herrscht immer Abendlicht.
Das sind wichtige Dinge.
»Vor den Sandwiches hab ich mich gefürchtet«, sagt der Junge heftig kauend.
»Wieso?«
»Wegen eurer Butter.«
»Aber es ist keine Butter drauf«, sage ich in zärtlichem Ton. Einem kleinen Jungen kann ich so etwas nicht übelnehmen. Sarah und ich hatten wohlweislich keine Butter auf die Brote geschmiert. Unsere Landbutter ist ungesalzen, und die Kinder werden ein paar Tage brauchen, bis sie sich daran gewöhnt haben. Wir hatten Sorge, sie könnten die Sandwiches zurückweisen und damit all die Mühe, die wir darauf verwendet hatten.
Sarah scheint bis zu den Schatten hoch oben in der Küche aufzuragen, und dort gibt es viele Schatten. Es ist seltsam, aber sie ist wie ein Mensch, der Häuser nicht gewohnt ist, wie ein Geschöpf, das im Freien lebt, ein Hase, eine Rohrdommel. Aber auf ihrem Gesicht liegt ein Lächeln, ein Strahlen – dauernd dreht sie den Kopf, so wie sich die Lampe eines Leuchtturms dreht, und lässt ihr warmes Lächeln auf die Kinder scheinen.
Ihr volles Haar ist puderweiß, meins dagegen ein stumpfes Grau, und sie hat einen besonderen Geruch, nicht unangenehm, aber schwer zu bestimmen, nicht etwa süß oder parfümiert. Vielleicht sind es ihre gestärkten Blusen unter der nachsichtigen blau-weißen Kittelschürze, vielleicht ist es aber auch die wie gestärkt wirkende Haut, die sie bei der täglichen Reinigung im Schlafzimmer unter Zuhilfenahme von Krug und Waschschüssel seift und schrubbt.
In diesem Haus gibt es nichts, was wir nicht geschrubbt hätten.
Nach landläufigen Maßstäben ist Sarah nicht unbedingt schön, aber anziehend, begehrenswert. Außerdem ist sie schlank und wirkt daher hochgewachsen, wie viele in ihrer Familie. Für die Kinder muss es aussehen, als nehme sie gar kein Ende, so weit reicht sie nach oben, bis in die Wolken ihres Haars. Ihre und meine Mutter waren Schwestern, aber ich glaube nicht, dass ein Fremder irgendeine Ähnlichkeit zwischen uns erkennen würde.
Über mehr als sieben Generationen stellten die Männer meiner Familie die Gutsverwalter von Humewood, die ihren waren Schneitler, als Schneiteln noch ein Handwerk war. Wären nicht Holzpflöcke aus dem Ausland in Mode gekommen, würden die von Sarahs Vorfahren so gehegten und gepflegten Haselnusswälder heute noch von besonderer Fertigkeit und Fachkenntnis zeugen. Und wäre mein Vater dem Landleben nicht so abgeneigt gewesen, hätte er vielleicht eine ähnliche Laufbahn eingeschlagen und diese Gegend nie verlassen – womit er sich eine Menge Ärger erspart hätte. Solche Dinge verbinden uns, Sarah und mich, auch wenn es in Wahrheit eher wirtschaftliche Zwänge waren, die mich wieder zu ihr führten. Ich war glücklich mit meinem Los in Dublin, mit Maud und Matt, mit dem Aufziehen der drei Jungen, doch das alles ist nun Geschichte. Die Zeit schreitet voran, sie kennt kein Verweilen. Die kleinen Jungen sind längst Männer, und Maud lebt nicht mehr.
Ach, die Gesellschaft dieser Kinder ist ein Segen. Sie ist unsere Chance. Nicht, dass wir das nicht wüssten. Wir glänzen vor Freude, wie mit Zucker aufgeschlagener Eischnee.
Als die Kinder gegessen haben, nehme ich sie mit hinüber zur Mauer, der blinden Mauer des Alkovens neben dem Kamin, wo eigentlich das Bett der Hexe stehen sollte, nur dass es keine Hexe mehr gibt, die dort schlafen könnte.
Keine Hexe im eigentlichen Sinn, sondern die alte Mutter, die ihr Zimmer und ihr Ehebett aufgeben musste, wenn der Sohn heiratete und seine frisch angetraute Braut ins Haus brachte. Vermutlich sind Sarah und ich jetzt die Hexen. Allerdings war es keiner von uns beiden vergönnt, Mutter zu werden. Als wir junge Frauen waren, hatten wir es uns so gewünscht.
Dort im Alkoven, wo es so beengt ist wie in der Zelle eines Einsiedlers und wo sich einst ein Bett aus Zweigen und Stroh befand, haben wir die Kinder, wenn wir das Glück hatten, sie bei uns zu haben, im Laufe ihres kurzen Lebens immer gemessen.
Der Kleine ist vier, und als ich ihn gegen den feuchten Putz drücke, fällt mir auf, dass er im letzten Jahr nicht allzu sehr gewachsen ist.
Das Mädchen, inzwischen etwas über sechs, hat einen Sprung von fast acht Zentimetern gemacht.
Das Haar des Jungen ist schwarz wie eine Amsel und klebt am Putz wie ein Rußfleck. Er lächelt und steht ruhig und bereitwillig da: ein kleiner Wachposten. Ich fürchte, in meinem tiefsten Innern glaube ich, dass ein Junge so viel wert ist wie zwei Mädchen. Ein Vorurteil, das ich einfach nicht loswerden kann.
Ihre Körpergröße zu messen ist wie Kälber zu untersuchen. Als hätten wir, solange sie nicht in unserer Obhut waren, um ihr Wachstum gebangt, uns gefragt, ob sie auch ordentlich gefüttert und getränkt würden. Meine Hände zittern, als ich sie auf die schmalen Schultern des Jungen lege. Ein Zittern in der Magengrube, für einen Moment wird mir fast übel. Vielleicht liegt es daran, dass ich mich zu ihm hinabbeugen muss. Klein ist er und makellos, sein Gesicht so glatt wie der Wasserspiegel eines Brunnens. Sein Lächeln so bezaubernd, dass man es zeichnen möchte, und tatsächlich bin ich mir sicher, dass sein Großvater Matt ihn, um sich vom Unterrichten jener undankbaren Kinder in Ringsend zu erholen, oft gezeichnet hat. Er ist so begabt darin, still zu sitzen. Still wie eine Landschaft.
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