»Hmm«, sagte mein Vater. »Wir machen einen Tee, wie wäre das?«, sagte er. »Ja, das machen wir. Cissy, Cissy, würdest du bitte Wasser aufsetzen, Liebes?«
»Ich trinke so viel Tee«, sagte der Priester, »es ist ein Wunder, dass meine Haut sich nicht braun färbt.«
Mein Vater lachte.
»Das glaub ich gern, aus Pflichtgefühl, nicht wahr? Aber in meinem Haus ist das nicht nötig. Überhaupt nicht nötig. Ich, der ich Ihnen alles in der Welt verdanke, alles in der Welt. Nicht dass, nicht dass –«
Und hier verhaspelte sich mein Vater und errötete, und ich muss sagen, auch ich errötete, aus Gründen, die ich nicht verstand.
Der Priester räusperte sich und lächelte.
»Ich nehme eine Tasse Tee, aber natürlich.«
»Ah, das ist gut, das ist sehr gut«, und schon konnten wir meine Mutter in der Spülküche am Ende des Flurs hantieren hören.
»Es ist so kalt heute«, sagte der Priester und rieb sich plötzlich die Hände, »dass ich sehr erleichtert bin, vor einem Kamin zu sitzen, wirklich. Am Fluss ist es eisig. Glauben Sie«, sagte er und zog ein silbernes Etui heraus, »ich könnte eine rauchen?«
»Nur zu«, sagte mein Vater.
Der Priester entnahm seiner Soutane jetzt eine Schachtel Streichhölzer und seinem Etui eine merkwürdig längliche Zigarette, riss mit wunderbarer Präzision und Gewandtheit das Streichholz an und sog zusammen mit der Luft die Flamme durch das glatte Röhrchen. Dann atmete er aus und hüstelte leicht.
»Die … die«, sagte der Priester, »die Stellung auf dem Friedhof ist, wie Sie sich wohl denken können, nicht … haltbar. Ähem?«
Er tat einen weiteren eleganten Zug an seiner Zigarette und fügte hinzu: »Ich fürchte wirklich, Joe. Mir ist die Tatsache ebenso unangenehm, wie sie Ihnen unangenehm sein dürfte. Aber Sie werden gewiss einsehen, was für eine … was für eine große Staubwolke auf meinem Kopf niedergegangen ist – angefangen vom Bischof, der der Meinung ist, alle Renegaten müssten, wie auf der letzten Synode beschlossen, exkommuniziert werden, bis hin zum Bürgermeister, der, wie Sie vielleicht wissen, sehr gegen den jetzigen Vertrag eingestellt ist und der, als einflussreichster Mann in Sligo, großen … großen Einfluss besitzt. Wie Sie sich vorstellen können, Joe.«
»Oh«, machte mein Vater.
»Ja.«
Nun zog der Priester zum dritten Mal an seiner Zigarette und stellte fest, dass er es bereits mit einer beträchtlichen Menge Asche zu tun hatte. Mit jener Pantomimik, die Raucher so an sich haben, sah er sich nach einem Aschenbecher um, einem Gegenstand, den es in unserem Haus nicht gab, nicht einmal für Gäste. Mein Vater verblüffte mich damit, dass er dem Priester seine Hand hinhielt, zugegebenermaßen eine schwielige, vom Graben gehärtete Hand, und Father Gaunt verblüffte mich damit, dass er die Asche unverzüglich in die dargebotene Hand schnippte, die, als die Hitze sie traf, vielleicht ein klein wenig zurückzuckte. Mein Vater, die Asche in der Hand, blickte beinahe dümmlich um sich, als wäre vielleicht doch irgendwo im Zimmer ohne sein Wissen ein Aschenbecher deponiert worden, und steckte sie dann mit fürchterlichem Ernst in die Hosentasche.
»Hmm«, sagte mein Vater. »Ja, ich kann mir vorstellen, dass es schwierig ist, diese beiden Pole miteinander zu versöhnen.«
Er sprach die Worte so bedächtig.
»Natürlich habe ich mich, besonders im Rathaus, nach einer alternativen Beschäftigung umgeschaut, und nachdem diese Möglichkeit zunächst … ähem … nicht möglich schien und ich drauf und dran war aufzugeben, teilte mir Mr Dolan, der Sekretär des Bürgermeisters, mit, es gebe da einen Posten, den man bereits seit Längerem zu besetzen versucht habe – angesichts der wahren Rattenplage, von der die Lagerhäuser am Flussufer heimgesucht werden, mit einiger Dringlichkeit. Finisglen ist, wie Sie wissen, ein durch und durch gesunder Bezirk, der Doktor selbst wohnt dort, bedauerlicherweise grenzen die Hafenanlagen gleich daran, wie Sie natürlich wissen, wie jedermann weiß.«
Nun, ich könnte ein kleines Buch über die Beschaffenheit menschlichen Schweigens schreiben, über Zweck und Anlass, doch das Schweigen, das mein Vater dieser Ansprache entgegenbrachte, war überaus bestürzend. Es war ein Schweigen wie ein Loch mit einem Sog darin. Er errötete noch tiefer, bis sich sein Gesicht purpurrot verfärbt hatte, als sei er das Opfer eines Überfalls.
In diesem Moment trat meine Mutter mit dem Tee herein. Sie sah aus wie eine, die Könige bedient. Vielleicht hatte sie Angst, meinen Vater anzublicken, und hielt die Augen deswegen auf das kleine Tablett mit der gemalten französischen Mohnwiese gerichtet. Ich hatte dieses Tablett schon oft an seinem Stammplatz auf der Anrichte in der Spülküche betrachtet, mir dabei vorgestellt, einen Wind über die Blumen streichen zu sehen, und mich gefragt, wie es wohl sei in jener von Hitze und einer unverständlichen Sprache erfüllten Welt.
»Also«, sagte der Priester, »ich freue mich, Ihnen im Namen des Bürgermeisters Mr Salmon den … ähem … Posten, die … ähem … Stelle anbieten zu können.«
»Die Stelle eines –?«, fragte mein Vater.
»Die Stelle eines –«, sagte der Priester.
»Eines was?«, fragte meine Mutter vermutlich gegen ihren Willen, das Wort sprang einfach in den Raum hinein.
»Eines Rattenfängers«, sagte der Priester.
Es blieb mir überlassen, ich weiß nicht, warum, den Priester zur Tür zu bringen. Auf dem schmalen Fußweg, wo die Kälte ihn umfing und zweifellos an seinen nackten Beinen die Soutane hinaufkroch, sagte der kleine Priester:
»Roseanne, richte deinem Vater bitte aus, dass sich sämtliches Zubehör für sein Gewerbe im Rathaus befindet. Fallen und so weiter, nehme ich an. Dort wird er sie finden.«
»Danke«, sagte ich.
Dann machte er sich auf den Weg die Straße hinunter. Einen Moment später hielt er an. Ich weiß nicht, warum ich stehen blieb und ihn beobachtete. Er zog einen seiner schwarzen Schuhe aus, lehnte eine Hand gegen die Backsteinwand unseres Nachbarhauses, balancierte sodann auf einem Fuß und tastete an der Unterseite seiner Socke nach etwas, das ihn beim Gehen behinderte, ein Kieselsteinchen oder ein Stückchen Splitt. Dann löste er die Socke von ihrem Halter und zog sie mit raschem Schwung aus. Dabei enthüllte er einen länglichen weißen Fuß, dessen Zehennägel ziemlich gelb waren, so wie alte Zähne, und in die Haut einwuchsen, als wären sie noch nie ge schnitten worden. Als er mich erblickte, die ich die Augen noch immer auf ihn geheftet hatte, lachte er, zog, nachdem er den störenden Stein aufgespürt hatte, Socke und Schuh wieder an und stand breitbeinig auf dem Bürgersteig.
»Was für eine Erleichterung«, sagte er freundlich. »Mach’s gut. Und«, setzte er hinzu, »gerade fällt mir ein, es gibt da auch einen Hund. Einen Hund, der zur Arbeit gehört. Zum Rattenfang.«
Als ich wieder ins Wohnzimmer kam, hatte mein Vater sich nicht gerührt. Das Motorrad hatte sich nicht gerührt. Das Klavier hatte sich nicht gerührt. Mein Vater sah aus, als würde er sich nie wieder rühren. Meine Mutter hörte ich in der Spülküche herumkratzen, genau wie eine Ratte. Oder wie ein kleiner Hund auf der Suche nach einer Ratte.
»Verstehst du etwas von dieser Arbeit, Papa?«, fragte ich.
»Ob ich – ach, ich denke schon.«
»Du wirst sie schon nicht so schwierig finden.«
»Nein, nein, auf dem Friedhof hatte ich mit so was oft zu tun. Die Ratten lieben die weiche Erde auf den Gräbern, und die Grabsteine bieten sich als Dächer geradezu an. Ja, ich hatte mit ihnen schon zu tun. Ich werde mich in die Sache einarbeiten müssen. Vielleicht gibt es in der Bücherei ein Handbuch.«
»Ein Handbuch für Rattenfänger?«, fragte ich.
»Ja, meinst du nicht, Roseanne?«
»Bestimmt, Papa.«
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