55Mit dem Gesetz zur Umsetzung der Hochqualifizierten-Richtlinie v. 1.6.2012 3und der im Jahre 2013 beschlossenen Öffnung des deutschen Arbeitsmarktes für Drittstaatsangehörige mit einer abgeschlossenen Berufsausbildung hat sich der Politikwechsel fortgesetzt. Mit der Blauen Karte ist ein Aufenthaltstitel für Absolventen eines Hochschulstudiums oder einer vergleichbaren qualifizierten Berufsausbildung von Drittstaatsangehörigen geschaffen worden, der auch eine Weiterwanderung in andere EU-Mitgliedstaaten unter den in der Blue Card-Richtlinie niedergelegten Voraussetzungen ermöglichen soll. Entsprechende Aufenthaltstitel stellt das Aufenthaltsgesetz für Forscher in Umsetzung der EU-Forscherrichtlinie 2005/71/EG 4und für Studenten in Umsetzung der EU-Studentenrichtlinie 2004/114/EG 5(mittlerweile abgelöst durch die weitgehend inhaltsgleiche REST RL 2016/801) zur Verfügung. Der Gesetzgeber ist dabei zum Teil erheblich über die Mindeststandards der EU-Richtlinien hinausgegangen und hat insbesondere die Arbeitsmarktprüfung durch die Bundesagentur für Absolventen einer in Deutschland abgeschlossenen Berufsausbildung weitgehend aufgehoben. Für Studenten wurde mit den Nebenerwerbsmöglichkeiten und dem Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt im Anschluss an einen erfolgreichen Studienabschluss der bestehende Rechtszustand weiter liberalisiert. Das Fachkräfteeinwanderungsgesetz v. 15.8.2019 6hat die damit begonnene Öffnung des Arbeitsmarkts für Drittstaatsangehörige, die über eine berufliche Ausbildung verfügen oder mit Aussicht auf eine berufliche Qualifizierung nach Deutschland einreisen oder sich in Deutschland aufhalten, fortgesetzt. Mit der Erleichterung der Erlangung eines Aufenthaltstitels zum Zweck der Aufnahme einer Erwerbstätigkeit oder Ausbildung und der Suspendierung des Vorrangprinzips sollen für Drittstaatsangehörige, die als Fachkräfte über eine Berufsausbildung verfügen oder die Aussicht haben, eine solche im Bundesgebiet zu erlangen, attraktive Bedingungen für einen Daueraufenthalt im Bundesgebiet geschaffen werden.
Während das AuslG 1990 Integration nur indirekt als Voraussetzung für die Gewährung unbefristeter Aufenthaltsrechte und der Einbürgerung vorschrieb, ist im AufenthG selbst eine Rechtsgrundlage für konkrete Maßnahmen zur Eingliederung von Ausländern geschaffen worden. Integration wird als Teil eines gesellschaftlichen Prozesses verstanden, bei dem sowohl den in dem Land Lebenden, wie auch den Zuwanderern Anstrengungen abverlangt werden. Auf der anderen Seite fördert der Staat die Integration der Ausländer gemäß dem Prinzip des „Förderns und Forderns“ vor allem durch Sprachkurse. Insoweit kann man die Aufnahme von Integrationsnormen als Bestandteil einer Gesamtregelung verstehen, die die Einwanderung von Ausländern aktiv fördert. Die Förderung von Integration ist mittlerweile zu einer der wichtigsten politischen Querschnittsaufgaben von Bund und Ländern geworden 7.
56Ob die Gesamtheit der Vorschriften des AufenthG den Schluss zulässt, die Bundesrepublik Deutschland habe den Schritt von der faktischen Zuwanderung zum „Einwanderungsland“ vollzogen, ist eher eine theoretische Frage. Faktisch ist die Bundesrepublik Deutschland eines der größten Einwanderungsländer weltweit, auch wenn die große Zuwanderung des vergangenen Jahrzehnts im Wesentlichen nicht auf eine Einwanderung beruflich qualifizierter Fachkräfte, sondern im Wesentlichen auf eine (ungesteuerte) humanitär begründete Migration durch Asylbewerber und Familiennachzug oder schlichte Duldung eines an sich illegalen Aufenthalts ausreisepflichtiger Ausländer zurückzuführen ist. Das unterscheidet die Einwanderungssituation in der Bundesrepublik Deutschland von der einiger klassischer Einwanderungsländer, die vielfach als Vorbild für die Bundesrepublik angepriesen werden.
57Vergleicht man das Regelungssystem des AufenthG mit demjenigen klassischer Einwanderungsländer, wie z. B. der USA, Australiens oder Kanadas 8, so ist offenkundig, dass das AufenthG keinen vergleichbaren Übergang zu einem System der generellen Öffnung für Einwanderer nach Maßgabe von Quoten oder eines Punktesystems, wobei diese Systeme bei näherer Betrachtung eine deutliche Präferenz für beruflich qualifizierte Ausländer gewähren und dem Bestehen eines Arbeitsvertrages und dem Nachweis guter Sprachkenntnisse des Aufnahmelandes ein hohes Gewicht einräumen, vorsieht. Auch nach dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz von 2019 bleibt die Einreise von Drittstaatsangehörigen grundsätzlich vom Nachweis eines Arbeitsvertrags und entsprechender beruflicher Ausbildung abhängig. Das Einwanderungsgeschehen in der Bundesrepublik ist ungeachtet der Öffnung des Arbeitsmarktes für qualifizierte Drittstaaatsangehörige nach wie vor erheblich stärker durch Integration der in das Bundesgebiet irregulär eingewanderter Ausländer als durch gezielte Anwerbung fachlich qualifizierter Einwanderer geprägt. Andererseits sind aber auch erfolglose Zuwandererer grundsätzlich in die sozialen Leistungssysteme integriert, was bei den traditionellen Einwanderungsstaaten regelmäßig nicht oder jedenfalls nicht in vergleichbarer Weise der Fall ist.
58§ 1 Abs. 1 Satz 2 AufenthG, der auch durch das Fachkräfteeinwanderungsgesetz unverändert beibehalten worden ist, bringt die migratonspolitische Leitlinie des deutschen Ausländerrechts dadurch zum Ausdruck, dass er als Zweck des Gesetzes die Ermöglichung und Gestaltung von Zuwanderung unter Berücksichtigung der Aufnahme- und Integrationsfähigkeit sowie der wirtschaftlichen und arbeitsmarktpolitischen Interessen der Bundesrepublik Deutschland definiert. Damit wird deutlich gemacht, dass von einer allgemeinen Öffnung Deutschlands für Zuwanderung ohne Rücksicht auf Arbeitsmarkterwägungen im Sinne eines traditionellen Einwanderungslandes keine Rede sein kann. Die Berücksichtigung der „Aufnahme- und Integrationsfähigkeit“ der Bundesrepublik Deutschland ist eine obligatorische Leitlinie, die für die Auslegung des Gesetzes zu beachten ist, auch wenn dieser Begriff ein weites politisches Beurteilungsermessen eröffnet.
II.Das Problem der Steuerung von Zuwanderung und rechtliche Instrumentarien der Zuwanderungskontrolle
59Die Steuerung der Zuwanderung hat die Diskussion um das Zuwanderungsgesetz erheblich geprägt 1. Mit dem Erlass des Zuwanderungsgesetzes ist die Zielsetzung einer Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung verbunden (§ 1 Abs. 1 Satz 1 AufenthG). Die Vorstellung, vor dem Erlass des Zuwanderungsgesetzes sei die Zuwanderung in die Bundesrepublik Deutschland weitgehend ungesteuert erfolgt, ist allerdings irrig. Bereits die Zuwanderung von „Gastarbeitern“ und ihren Familienangehörigen erfolgte aufgrund rechtlicher Vorgaben und bewusster politischer Entscheidungen, nach dem Ende des Anwerbestopps den Aufenthalt dieser Personen nicht zu beenden, sondern in ein unbefristetes Aufenthaltsrecht bzw. eine Aufenthaltsberechtigung und damit faktisch in einen Einwandererstatus zu überführen.
60Der Begriff der Zuwanderung ist von demjenigen der Einwanderung zu unterscheiden. Während Einwanderung im Aufenthaltsrecht durch das unbefristete Aufenthaltsrecht bzw. den Daueraufenthalt gekennzeichnet ist, erfasst der Begriff der Zuwanderung eine Fülle unterschiedlicher Sachverhalte und Interessenlagen. Sie reichen von der Visumerteilung zum Zweck kurzfristiger Besuchs- oder Tourismusaufenthalte über von vornherein zeitlich befristete Aufenthalte zum Zweck des Studiums, der Erbringung von Dienstleistungen oder der Ausübung saisonaler Beschäftigung bis zum Niederlassungsrecht für besonders qualifizierte Wissenschaftler (§ 18d AufenthG). Ob eine „Einwanderung“ vorliegt, beurteilt sich allerdings häufig erst nach der Einreise. Dies macht einen, wenn auch nicht den einzigen grundlegenden Unterschied zur Migrationspolitik klassischer Einwanderungsstaaten, wie z. B. der USA oder Kanada aus. Dementsprechend ist Gegenstand einer rechtlichen Erfassung der Einwanderung in Deutschland in den seltensten Fälle eine einzige behördliche Entscheidung, sondern ein aufenthaltsrechtlicher Prozess der Verfestigung, der in erster Linie durch das Aufenthaltsgesetz geregelt wird, aber auch teilweise verfassungs- und völkerrechtlich durch ideologisch-politische Konzepte wie „Verwurzelung“ oder „Kindeswohl“ determiniert ist 2.
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