43Mit der Daueraufenthaltsrichtlinie 2003/109/EG 7ist die Rechtsstellung solcher Drittstaatsangehöriger, die sich bereits längere Zeit rechtmäßig in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union aufhalten, geregelt worden. Auch Personen mit internationalem Schutzstatus, die ursprünglich nicht in den Anwendungsbereich der Richtlinie fielen, können sich mittlerweile aufgrund der RL 2011/51/EU 8auf die Rechte der RL 2003/109/EG berufen. Die Richtlinie nimmt in einigen Punkten deutlich Abschied von der ursprünglichen Vorstellung einer „soweit-als-möglich-Annäherung“ von Drittstaatsangehörigen an die Rechtsstellung von Unionsbürgern und erlaubt Beschränkungen in Bezug auf die Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen auf „Kernleistungen“. Darunter verstehen die Erwägungsgründe zumindest ein Mindesteinkommen sowie Unterstützung bei Krankheit, Schwangerschaft, Elternschaft und Langzeitpflege. Nach der Rspr. des EuGH fallen Leistungen, die dazu beitragen, dass der Einzelne seine Grundbedürfnisse wie Nahrung, Wohnung und Gesundheit zu befriedigen vermag, unter das Gleichbehandlungsgebot. Ausnahmen sind eng auszulegen. Wohngeld fällt daher in den Kernbereich. 9Die Richtlinie erlaubt eine Einschränkung der Gleichbehandlung auf die Fälle, in denen der Wohnsitz oder der gewöhnliche Aufenthalt des langfristig Aufenthaltsberechtigten oder seiner Familienangehörigen, für die er Leistungen beansprucht, im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaates liegen. Die Verpflichtung zur exterritorialen Gewährung sozialer Leistungen ist damit grundsätzlich ausgeschlossen.
44Eine Reihe weiterer Richtlinien wurden im Bereich des Einwanderungsrechts zum Zweck der Aufnahme einer Erwerbstätigkeit und zum Zweck des Studiums und der Ausbildung erlassen. Mit der REST-Richtlinie 2016/801 10sind die Rechte von Drittstaatsangehörigen, die einen Aufenthaltstitel zu Forschungs- und Studienzwecken, zur Absolvierung eines Praktikums, zur Teilnahme an einem Freiwilligendienst, Schüleraustauschprogrammen oder Bildungsvorhaben und zur Ausübung einer Au-pair Tätigkeit geregelt worden. Weitere Richtlinien betreffen die Erteilung einer Blue Card (Blaue Karte), Richtlinie 2009/50/EG über die Bedingungen für die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen zur Ausübung einer hoch qualifizierten Beschäftigung 11. Die Richtlinie 2011/98/EU v. 13.12.2011 12schreibt ein einheitliches Verfahren zu einer kombinierten Erlaubnis für den Arbeitsmarktzugang und das Aufenthaltsrecht sowie über ein gemeinsames Bündel von Rechten von Drittstaatsangehörigen vor, die sich rechtmäßig in einem Mitgliedstaat aufhalten. Mit den Richtlinien über die Einreise und den Aufenthalt von Saisonarbeitnehmern v. 26.2.2014 13und die Richtlinie über konzernintern entsandte Arbeitskräfte 14ist das Regelungsprogramm zum europäischen Einwanderungsrecht vorläufig abgeschlossen worden.
45Ein Problem der Rechtsharmonisierung bei der Einwanderungspolitik dürfte darin liegen, dass die Einwanderungskonzepte und Politiken, die sich in den Mitgliedstaaten entwickelt haben, eng verflochten sind mit unterschiedlichen historischen, geografischen und sozialen Gegebenheiten. Auch die Arbeitsmärkte der Mitgliedstaaten sind trotz des europäischen Binnenmarktes noch überwiegend nationalstaatlich geprägt. Die Regelung der Arbeitskräftewanderung kann daher nicht vollständig einheitlich erfolgen, sondern muss sich an den unterschiedlichen Arbeitsmarktstrukturen der jeweiligen Mitgliedstaaten orientieren. Dementsprechend sieht der Vertrag von Lissabon vor, dass die Kompetenz der Union, eine gemeinsame Einwanderungspolitik zu entwickeln, nicht das Recht der Mitgliedstaaten berührt, festzulegen, wie viele Drittstaatsangehörige in ihr Hoheitsgebiet einreisen dürfen, um dort als Arbeitnehmer oder Selbständige Arbeit zu suchen (Art. 79 Abs. 5 AEUV) 15. Dies spricht für Spielräume der Mitgliedstaaten, ein hohes Maß an Flexibilität und Zurückhaltung gegenüber einer allzu weitreichenden Rechtsharmonisierung. Anstatt sich auf eine begrenzte Anzahl eindeutig formulierter und auch dem Adressaten begreiflicher „harter Grundsätze“ zu beschränken, hat der europäische Gesetzgeber die Konzeption allumfassender Regelungswerke mit bürokratischem Eifer verfolgt. Durch eine übertriebene Detailliertheit der unionsrechtlichen Vorgaben, gekoppelt mit einer Fülle von nationalen Regelungsoptionen ist ein intransparentes und vielfach unklares Regelungswerk entstanden, in das unterschiedliche Regelungswünsche und Interessen der Mitgliedstaaten, zahlreicher interessierter Verbände und des Europäischen Parlaments kumulativ in teilweise unsystematischer und widersprüchlicher Weise eingeflossen sind, ohne dass eine europäische Gesetzgebungskonzeption und innovative europäische Regelungsansätze sichtbar geworden sind.
IV.Asyl- und Flüchtlingspolitik
46Mit dem Amsterdamer Vertrag von 1997 erfolgte die Überführung der Asyl- und Flüchtlingspolitik aus dem einzelstaatlichen Kompetenzbereich in die Zuständigkeit der Europäischen Union. Damit verfügt die Europäische Union über ein weitgespanntes Spektrum von Rechtsetzungsbefugnissen, die seit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon nicht mehr auf Mindeststandards beschränkt sind 1. Der Prozess der europäischen Asylrechtsharmonisierung mit dem Ziel des Aufbaus eines Gemeinsamen Europäischen Asylsystems ist mit der Verabschiedung von zahlreichen Richtlinien und Verordnungen zur Regelung des Asylverfahrens, der Aufnahmebedingungen von Asylbewerbern, der Voraussetzungen für die Gewährung internationalen Schutzes und der Zuständigkeit für die Durchführung von Asylverfahren, noch nicht abgeschlossen. Teilweise haben sich die Vorschriften insbes. der sog. zweiten Generation, die in einer „Schönwetterperiode“ geringer Asylbewerberzahlen erlassen wurden und die durch einen einseitigen Ausbau der Rechte von Asylbewerbern, Vernachlässigung der damit eröffneten Anreize zur illegalen Einwanderung von Migranten und dem Mißbrauch des Asylrechts unter Ignorierung der staatlichen Interessen an einer Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung gekennzeichnet sind, als nicht hinreichend praxistauglich erwiesen, das Ziel eines einheitlichen unionsweit gültigen Asylstatus und die Schaffung eines von allen Mitgliedstaaten akzeptierten Gemeinsamen Europäischen Asylsystems zu verwirklichen 2. Als Folge großer Migrationsbewegungen in die EU und einer anhaltend irregulären Weiterwanderung von Asylsuchenden innerhalb der Union haben zahlreiche Mitgliedstaaten ihre Asylrechtspolitik in verstärktem Masse wieder an nationalen Bedürfnissen und Notwendigkeiten orientiert und das europäische Asylrecht sanktionslos ignoriert und sich damit weit von den ursprünglichen Zielen einer gemeinsamen europäischen Asylpolitik entfernt. Art. 72 AEUV sieht zwar ausdrücklich vor, dass die Kompetenzen der EU aufgrund des Titels V (Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts) die Wahrnehmung der mitgliedstaatlichen Kompetenzen für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit nicht berühren, erlaubt aber keine Abweichung von den geltenden EU-Normen 3.
47Den Beginn der gesetzgeberischen Aktivitäten im Asyl- und Flüchtlingsrecht markiert die bereits im Jahre 2001 verabschiedete sog. Massenzustromrichtlinie 4. Diese Richtlinie sieht ein gemeinschaftliches Verfahren für mitgliedstaatliche Maßnahmen zur Gewährung temporären Schutzes im Falle von Massenfluchtbewegungen vor. Voraussetzung für die Aufnahme nach dieser Richtlinie ist ein entsprechender Beschluss des Rates, der allerdings keine Aufnahmepflicht der Mitgliedstaaten beinhaltet, sondern lediglich die Befugnis der Mitgliedstaaten auslöst, Flüchtlingen aufgrund der Richtlinie temporären Schutz mit dem in der Richtlinie niedergelegten Inhalt zu gewähren. Die Richtlinie hat keinerlei praktische Bedeutung entfaltet. Auch die Bundesregierung hat im Jahre 2015 keinen Anlass gesehen, die spezifisch für einen Massenzustrom von Flüchtlingen konzipierte Richtlinie durch Befassung der europäischen Organe in Anspruch zu nehmen. Soweit globale Aufnahmen von Kriegsflüchtlingen erfolgten, geschah dies aufgrund von nationalen Aufnahmeprogrammen.
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