Als offene Antwort verweist er – mit Bezugnahme auf Felkendorff (2003) – auf eine Reihe von Argumentationen, die gegen differente Definitionen von Behinderung im Allgemeinen vorgebracht wurden und die wir z. T. auch im Rahmen begrifflicher Unzulänglichkeiten oben schon angedeutet haben:
Definitionen …
• führen zu Stigmatisierung,
• wirken essenzialistisch,
• sind defizitär und betonen Negativmerkmale,
• sind ein willkürliches Konstrukt,
• können höchst unterschiedliche und komplexe Phänomene nicht zusammenfassend beschreiben,
• transformieren ein sozial bedingtes Phänomen in ein individuelles Problem,
• tragen zu sozialer und institutioneller Segregation bei,
• werden zur Untermauerung und Ausweitung professionsbezogener Zuständigkeiten missbraucht,
• determinieren die damit adressierte Gruppe auf bestimmte Verhaltensweisen und Entwicklungsmöglichkeiten,
• haben keine pädagogische Aussagekraft.
Auch beim Versuch einer Definition von so genannter ›Geistiger Behinderung‹ lassen sich die genannten (Gegen)Argumente alle sehr deutlich wiederfinden. Gemein ist allen (fachlichen/disziplinären) Definitionen der Standort der Außenperspektive, bei welchem das persönliche Kategorienschema der Definierenden (= oftmals Menschen ohne Behinderungserfahrungen) dominiert. So gilt die Aussage Feusers auch heute noch ungebrochen: »Es gibt Menschen, die wir aufgrund unserer Wahrnehmung ihrer menschlichen Tätigkeit, im Spiegel der Normen, in dem wir sie sehen, einem Personenkreis zuordnen, den wir als ›geistigbehindert‹ bezeichnen« (Feuser, 1996, 18; Hervorhebungen i. O.). Nicht nur begriffliche Vorschläge und Fassungen, sondern gleichsam auch Definitionsversuche des ›Phänomens Geistige Behinderung‹ und des so konnotierten Personenkreises basieren stets auf externen Zuschreibungen und verkörpern einen ›Blick von außen‹, der vorrangig spekulativen Charakter hat. Ihnen wohnt immer das Risiko der Produktion und Re-Produktion von Differenzmustern inne, die auf einer Wahrnehmung von Andersheit im Sinne von Mangel und Unvollständigkeit (vgl. Danz 2015) basieren und auf einer zwangsläufigen Normorientierung fußen. Damit bedienen viele Definitionen den Othering-Prozess (
Kap. I, 3.3) und erweisen sich weder als intersektionalitätssensibel noch als reifikationssensibel.
Verfolgt man den so genannten (sonderpädagogischen) Fachdiskurs, herrscht seit vielen Jahren eine weitgehende fachliche Einigkeit darüber, dass eine so genannte Geistige Behinderung nicht mehr an personenbezogenen Definitionskriterien festgemacht, sondern als Situation eines Individuums beschrieben wird, in welcher ein außergewöhnlicher Assistenzbedarf innerhalb verschiedener Entwicklungs- und Lebensbereiche vorliegt (vgl. Speck 2005). Diesbezüglich hat Feuser schon 1976 eine Definition vorgeschlagen, die dem »sozialen Modell von Behinderung« entspricht und damit nach wie vor aktuelle Relevanz hat:
»Stellen wir fest, daß als geistigbehindert gilt, wer aufgrund organisch-genetischer Defekte und der infolge davon auftretenden Störungen oder aufgrund andersweitiger Schädigungen, insbesondere durch Beeinträchtigungen infolge soziökonomischer Benachteiligung und sozialer Isolation, in seinen Aufnahme- und Verarbeitungskapazitäten, die sich besonders im Zusammenhang von Wahrnehmung, Denken und Handeln sowie in der Sensomotorik zeigen, derart beeinträchtigt ist, daß er angesichts der vorliegenden Lernfähigkeit zu Befriedigung seines besonderen Erziehungs- und Bildungsbedarfs voraussichtlich lebenslanger spezielle pädagogischer und sozialer Hilfen bedarf « (708).
Seit den 1970er Jahren werden in vielen definitorischen Annäherungen nach wie vor differente Entwicklungsbereiche angesprochen, die als beeinträchtigt gelten, wenn man von einem Normvergleich mit privilegierten Menschen ohne Behinderungserfahrungen als Normhorizont ausgeht. Dies erfolgt zumeist entlang einer sichtbaren/beobachtbaren Erscheinungsebene – »nahe am anschaulichen Pol« (Ziemen 2002, 29) – und in einer sehr tiefgreifenden Form, da stets alle Entwicklungsbereiche genannt werden: Soziale Beziehungen, Wahrnehmung, Bewegung & Mobilität, Kognition & Lernen, Kommunikation & Sprache, Emotionale Befindlichkeit (vgl. Fischer 2016). Damit fußen Definitionen einer so genannten Geistigen Behinderung in der Regel auf negativ konnotierten Differenzmarkierungen in (allen) zentralen Entwicklungsbereichen und stellen demzufolge eine sehr tiefgreifende und stigmatisierende Zuschreibungskategorie dar.
Wir möchten auf eine konkrete ›Neudefinition‹ des Konstruktes Geistige Behinderung verzichten – nicht zuletzt, weil allein schon der Begriff nicht unsere Zustimmung findet (s. o.) – und stattdessen eher auf konstituierende Aspekte eingehen, die für ein Verständnis dessen, was mit einer ›Geistigen Behinderung‹ assoziiert wird, wesentlich sind. Dies erfolgt auf der Basis der Konturierung eines grundlegenden fragilen, brüchigen, vulnerablen Subjektverständnisses, welches stets (auch) durch Momente der Abhängigkeit und Unterwerfung (vgl. Butler 2001) geprägt ist (
Kap. I, 2.4). Dementsprechend soll eine Triangulation von sozialer Determiniertheit, Subjektivität & Vulnerabilität und Unbestimmtheit vorgeschlagen werden, welche auf einer tiefgreifenden Weiterentwicklung des »Triangulären Grundverständnisses von Geistiger Behinderung« von Schuppener (2007, 115) basiert. Damit wird die relationale Betrachtung des Etiketts ›Geistige Behinderung‹ und entsprechender Konsequenzen betont.
Ein von außen formuliertes Verständnis dessen, was unter der Diagnose ›Geistige Behinderung‹ verhandelt wird, ist unseres Erachtens stets durch folgende anthropologische Anerkennungsfaktoren und -risiken geprägt:
1. Soziale Determiniertheit
Hierunter fallen äußere Einflüsse in Form von Be-Hinderungen durch gesellschaftliche Macht- und Differenzstrukturen sowie damit einhergehende Exklusionsrisiken für Menschen, die von Marginalisierung bedroht sind. Dazu zählen Personen, die mit der Diagnose einer geistigen Behinderung konfrontiert sind, in hohem Maß. Es vereint sich eine Vielzahl an Risikofaktoren für Menschen, die als normabweichend wahrgenommen werden. Diese Risiken lassen sich im Kontext einer protonormalistischen Gesellschaft als zwangsläufig kennzeichnen: Ausgrenzungserfahrungen, ›Andersartigkeitserfahrungen‹, Ablehnungserfahrungen, Institutionserfahrungen, ›Schonraumerfahrungen‹, Fremdbestimmungserfahrungen, Erfahrungen des ›Nicht-verstanden-werdens‹, Diskriminierungs- und Stigmatisierungserfahrungen u. a. Derartige Strukturen sind als externe Einflüsse eine zentrale Bedingungsvariable für die Fortschreibung des Labels geistig behindert und haben gleichsam Einfluss auf die Identitäts- und Persönlichkeitsentwicklung (vgl. Schuppener 2009, 2011a).
Die soziale Determiniertheit wird genährt durch eine ›Konstruktion des Anderen‹, über welche sich nach wie vor professions- und disziplinbezogen eine Sonderpädagogik legitimiert, die eine (Re)Produktion der Differenz von Menschen mit Behinderungserfahrungen in Abgrenzung zu einer vermeintlichen »Normalität« proklamiert. Es handelt sich damit um eine äußerst wirkmächtige und zentrale Einflussvariable (auch) auf das Konstrukt einer ›Geistigen Behinderung‹. Als eine Art Gradmesser für die Strukturen und Prozesse sozialer Determiniertheit lässt sich der Kernaspekt der Responsivität markieren. Versteht man Responsivität als »›Antwort‹ geben auf Ansprüche, Fragen Anforderungen, Provokationen, Aufforderungen, Angewiesenheit, Begehren des Anderen« (Stinkes 2004, 86), so ist mit der Zuschreibung einer geistigen – insbesondere auch einer schweren und/oder mehrfachen – Behinderung immer eine responsive Irritation verbunden: Soziale Situationen und Begegnungen zwischen Menschen mit und ohne zugeschriebene Behinderungen sind nicht selten durch massive Unsicherheiten im Dialog geprägt. Hieraus kann eine Attribution von Fremdheit entstehen, wobei Fremdheit hier im phänomenologischen Sinne als interne und externe Fremdheit des Ausdruckverhaltens (vgl. Stinkes 2004) verstanden wird. Stinkes (ebd.) spricht hier von einer »intersubjektiven Angewiesenheit« (87), in welcher sich besonders Menschen befinden, die aufgrund eingeschränkter Kommunikations- und Ausdrucksmöglichkeiten deprivilegiert sind. Ein erweitertes Verständnis von Responsivität in der Leibphänomenologie fußt auf einer Öffnung gegenüber dem Fremden und einer Orientierung auf ein »gemeinsames Handeln« im Sinne einer »responsiven Leiblichkeit« (ebd., 88). Das schließt ein, dass mir der Anspruch einer Person, auf die ich reagiere/antworte, unzugänglich ist und hier stets eine grundlegende Offenheit als Kernanspruch pädagogisch-professionellen Handelns vorausgesetzt werden muss, den wir folgend in Punkt 3 noch aufgreifen möchten. Gleichsam soll das ›Risiko von Fremdheit‹ nicht unbemerkt bleiben, welches im Vorenthalten sozialer Anerkennung münden kann und zwangsläufig maßgeblichen Einfluss auf die Subjektivität und die Vulnerabilität eines Menschen hat.
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