In kleinen Gruppen, in denen ausschließlich Blutsverwandte zusammenleben, stellt sich das Trittbrettfahrerproblem dank der durch die kleine Gruppengröße geringen Überwachungskosten und des genetisch bedingten Altruismus’ unter Verwandten kaum (McCullough & Carter 2013, Lieberman et al. 2007). In großen Gruppen wird jedoch ein starker Kontrollmechanismus zum Schutz dringend benötigt. Religion und Religiosität oder präziser formuliert, die kostenintensiven religiösen Verhaltensweisen stellen einen solchen Mechanismus dar (Sosis 2004, McNamara 2006). Individuen, die Mitglieder der Gruppe werden und von der Kooperation profitieren wollen, müssen sich dieser Auffassung zufolge zu derjenigen Religion bekennen, die als Verhaltenskodex dient und u. a. kooperatives Verhalten vorschreibt. Dieses Bekenntnis müssen alle immer wieder durch die Ausführung der ebenfalls vorgeschriebenen kostenintensiven Verhaltensweisenglaubhaft beweisen. Das funktioniert aber nur in dem Ausmaß, in dem die geforderten Verhaltensweisen signifikante Kosten beinhalten. Denn nur teure Verhaltensweisen können Signale des Bekenntnisses zum Verhaltenskodex sein und sind nur schwer vorzutäuschen und daher als glaubwürdig einzustufen (Zahavi & Zahavi 1998). Ein Individuum zeigt so durch wiederholtes Ausführen dieser kostspieligen Verhaltensweisen an, dass es gewillt ist, nicht-kooperatives also antisoziales Betragen zu vermeiden.
So erfüllen Verhaltensweisen wie lange vorgeschriebene Fastenperioden, schmerzhafte Rituale oder andere asketische Praktiken, die aus evolutionärer Sicht zunächst nachteilig erscheinen, eine sehr wichtige soziale Kontrollfunktion gerade wegen ihrer Kostspieligkeit. Sie stellen den Preis dar, der für die Kooperation und die damit einhergehenden Vorteile zu zahlen ist. Gruppen, die sich einem religiösen Verhaltenskodexunterwerfen und so eine erfolgreiche Kooperation ermöglichen, verschaffen sich damit gegenüber anderen Gruppen einen deutlichen evolutionären Vorteil (McCullough & Carter 2013).
Die Vorstellung einer Gottheit als moralische Instanz, die über das Verhalten eines jeden Einzelnen wacht, ist hierbei besonders effektiv, um Kooperation sicherzustellen. Eine solche Gottheit, die das Benehmen des Individuums auch dann beobachtet und bewertet, wenn es keine (menschlichen) Zeugen gibt, verringert den notwendigen sozialen Überwachungsaufwand um ein Vielfaches (McCullough & Carter 2013). Dieser Zusammenhang wird u. a. dadurch belegt, dass Vorstellungen von derartigen moralisierenden Gottheiten mit verschiedenen Kennzahlen gesellschaftlicher Komplexität wie z. B. Gruppengröße oder Verwendung von Zahlungsmitteln positiv korrelieren (Johnson 2005). Außerdem fällt die Wandlung der Gottesvorstellung in eine moralische Instanz mit der Entstehung großer menschlicher Gesellschaften zusammen (Henrich et al. 2010). In diesem Zusammenhang werden die zehn Gebote, auch Dekalog genannt, die eine Reihe von Geboten und Verboten Gottes darstellen, die Kirchen- und Kulturgeschichte nicht nur in Europa entscheidend mitgeprägt haben. Sie stellen aus heutiger Sicht eine Art Verfassungsentwurf für das Zusammenleben in einer Zivilgesellschaft dar.
Der Wille, bestimmte eigennützige, egozentrische und antisoziale Verhaltensweisen zu vermeiden, ist für die erfolgreiche Kooperation zugegebenermaßen nicht hinreichend. Vielmehr erfordert eine erfolgreiche Kooperation die Hemmung nicht-kooperativen, impulsiven, aggressiven oder antisozialen Verhaltens – eine Funktion, die als Selbstkontrolle bezeichnet wird (Baumeister et al. 2007, McCullough & Willoughby 2009). Neuropsychologisch betrachtet, nimmt für diese Funktion der präfrontale Kortex (PFC) im menschlichen Gehirn eine zentrale Stellung ein (McNamara 2006). Selbstkontrolle bezeichnet die Fähigkeit, die eigenen Antworten zu ändern, insbesondere um sie mit Normen wie Idealen, Werten, Moral und sozialen Erwartungen in Einklang zu bringen und die Verfolgung langfristiger Ziele zu unterstützen (Baumeister et al. 2007). Die Selbstkontrolle ist allerdings von der Selbstregulation, unter der nach McCullough & Willoughby (2009) der Prozess verstanden wird, bei welchem ein System aufgrund der Information über den gegenwärtigen Zustand seine Funktion selbst anpasst, zu unterscheiden. Selbstkontrolle wird üblicherweise als spezifische Form der Selbstregulation aufgefasst, die dadurch gekennzeichnet ist, dass diese in erster Linie die bewusste und zielgerichtete Hemmung von präpotenten Verhaltensweisen (Verhaltenstendenzen, Emotionen, Motivationen) im aktuellen Moment betrifft (Baumeister et al. 2007, McCullough & Willoughby 2009). Solche präpotenten Verhaltensweisen treten bei Kooperationsproblemen regelmäßig auf, etwa wenn es um die Verlockung geht, von einem öffentlichen Gut einen größeren Anteil zu entnehmen als den, der dem Individuum zusteht (Döringer 2016). Um hierfür eine Lösung zu finden, benötigt der Mensch die neuropsychologischen Funktionen des präfrontalen Kortex, woraus sich aus philosophischer Sicht die Frage ergibt, wo genau morphologisch wie funktionell das Konstrukt der Moral im Gehirn zu verorten ist (Declerck et al. 2013). Das wirft wiederum die Frage auf, ob und inwieweit Moral naturalisiert werden kann. DeQuervain und Kollegen fanden 2004 in einem Vertrauensspiel heraus, dass z. B. der Akt der Bestrafung mit einer erhöhten Aktivität im dorsalen Striatum einhergeht und dass diese umso höher ist, wenn man viel dafür investiert. King-Casas et al. (2005) suchten in ihrer Studie nach neuronalen Korrelaten von Vertrauen und konnten diese ebenfalls im dorsalem Striatum verorten. Aber wie können wir nun Moral definieren, die sich offenbar an verschiedenen Orten im menschlichen Gehirn abbilden lässt?
2.4 Das Problem der Moral
Die Moral bezeichnet das sittliche Empfinden und Verhalten des Menschen. Bezogen auf die Gesellschaft stellt Moral die Gesamtheit von ethisch-sittlichen Normen, Grundsätzen und Werten dar, die das zwischenmenschliche Verhalten einer Gesellschaft regulieren, die von dieser als verbindlich akzeptiert werden. Laut Bernhard Williams (1929–2003) macht die Moral den Menschen glauben, dass es ohne Verpflichtungen nur Neigungen und ohne Freiwilligkeit nur Zwang geben könne (Williams 2011). Offenbar ist, dass Menschen nicht immer Regeln und Pflichten benötigen, um richtig zu handeln. Evolutionsbiologen und Neuroökonomen postulieren, dass unsere moralischen Dispositionen im Gehirn angelegt sind.
Charles Darwin (1809–1882) hingegen nahm an, dass sich beim zivilisierten Menschen die natürliche Auslese von der Wirkung der moralischen Prinzipien sogar verdrängen lässt und die natürliche Auslese so nicht mehr der alleinige Motor der Evolution ist. In seinem 1871 veröffentlichten Werk »Die Abstammung des Menschen und die sexuelle Selektion« schreibt er im fünften Kapitel »Über die Entwicklung der geistigen und moralischen Fähigkeiten während der Urzeit und der zivilisierten Zeiten«: »Der Vorteil, den disziplinierte Krieger vor undisziplinierten Horden haben, beruht hauptsächlich auf dem Vertrauen, das jeder einzelne zu seinem Gefährten hat. Gehorsam ist […] von höchstem Werte, denn jede Form von Regierung ist besser als gar keine. Selbstsüchtige und zänkische Menschen werden nicht zusammenhalten, und ohne Zusammenhalt kann nichts erreicht werden […] Die sozialen und moralischen Eigenschaften werden daher die Tendenz haben, langsam fortzuschreiten und sich über die Welt zu verbreiten« (Darwin 2012).
Für die Neurophilosophin Patricia Churchland (*1943) ist die Moral »anscheinend ein natürliches Phänomen«. Nach Ihrer Auffassung beruht die Moral weniger auf Regeln, sondern vielmehr auf Werten, die in unserem sozialen Bindungsverhalten begründet sind (Văsek 2017). Die britische Philosophin Elizabeth Anscombe (1919–2001) fand das Konzept moralischer Verpflichtung entbehrlich bis sogar schädlich und forderte die Moralphilosophen auf, erst nach einem angemessenen Konzept der Psychologen weitere Denkmodelle zu entwickeln.
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