Hochachtungsvoll
Fürst Arthur von Waldmünde
Boynen runzelte die Stirn und schwieg einen Moment, bevor er aufsah. Dann räusperte er sich. „Ich kenne die Tochter des Fürsten gut. Sie heißt Aurora von Waldmünde und ist wirklich nett. Wir waren früher an derselben Schule und sind immer mal wieder zusammen mit unseren Pferden ausgeritten. Wir sind … echte Freunde.“
Safira, die noch immer am Fenster stand, machte einen Handstandüberschlag und hing gleich darauf wieder an ihrem Seil. Mit dem Kopf nach unten schaute sie Boynen nun direkt in die Augen. „Bist du verliiiiiiebt?“
Verblüfft starrten die anderen zuerst auf Safira und dann auf Boynen, dessen Gesicht rot anlief.
„Safira hat recht! Gib es zu! Du bist in das Mädel verschossen“, grinste Seebär und ließ zur Bekräftigung seine Faust auf den Tisch krachen, sodass die darauf gedeckten Suppenteller um zwei Zentimeter in die Höhe sprangen.
„Klar ist er in sie verliebt“, lachte Brummel. „Und zwar bis über beide Ohren! Das sehe ich ihm doch an der Nasenspitze an. Aber das kann ihm wohl niemand verübeln, denn sie ist eines der schönsten Mädchen, die ich je gesehen habe – wenn ihr mich fragt.“
Boynen nickte. „Ja, sie ist wirklich bezaubernd. Es ist furchtbar, dass sie von diesem schrecklichen Piraten entführt wurde. Die arme Aurora!“
Der alte Matrose stand auf. „Tja, ich weiß leider nicht, was man tun könnte, um sie zu retten. Aber ich wollte dir unbedingt diese Nachricht überbringen.“
„Vielen Dank für deine Mühe“, sagte Boynen, griff in die Hosentasche und gab dem Matrosen etwas Geld. Der verabschiedete sich daraufhin.
Als er fort war, ballte Boynen seine Hand zur Faust. „Wir müssen Aurora retten. Seid ihr dabei?“
Safira sprang auf den Boden und saß eine Sekunde später dicht neben ihm. „Willst du das wirklich tun? Es heißt doch, dass der Schwarze Pirat unheimlich böse sei! Und keiner weiß, wo er sich aufhält. Man sagt, dass er auf einer unbekannten Insel in einer uneinnehmbaren Festung wohnt. Er besitzt mehrere Piratenschiffe. Und er hat mindestens tausend Männer auf seiner Seite – alles gemeine Piraten, die für ihn kämpfen.“
Boynen schaute entschlossen in die Runde. „Ich weiß, dass wir bei diesem Abenteuer Kopf und Kragen riskieren werden. Aber ich werde Aurora nicht ihrem ungewissen Schicksal überlassen, so wahr ich Käpten Wilbert Boynen Sturm heiße. Seid ihr dabei?“
„Natürlich!“, riefen Brummel und Seebär wie aus einem Munde. „Du weißt doch, dass wir dich niemals im Stich lassen. Und die anderen Matrosen deiner Mannschaft werden sich bestimmt ebenso wenig drücken.“
„Dann mache ich auch mit“, erklärte Safira nach kurzem Zögern. Ihr war zwar ein wenig unbehaglich zumute, aber zu Käpten Sturm hatte sie uneingeschränktes Vertrauen.
„Sehr gut, dann werde ich noch heute den Fürsten von Waldmünde besuchen. Und wenn ich zurückkehre, stechen wir in See. Brummel, kannst du mir mein bestes Pferd satteln?“
„Aye, aye, Käpten Sturm – wird gemacht!“
Bereits zwei Tage später stach Käpten Sturms Schiff, die Esmeralda, in See. Ein starker Wind blies in die Segel und trieb das schnittige Schiff rasch vorwärts.
Safira saß hoch oben in der Takelage und genoss den Ausblick auf das weite Meer. Die kühle, frische Brise wirbelte ihre lockigen rötlich braunen Haare durcheinander und erzeugte einen angenehm salzigen Geschmack in ihrem Mund.
Ja, Safira liebte das Meer, die hohen Wellen und die Weite. Hier fühlte sie sich zu Hause. Sie konnte nach Herzenslust in der Takelage herumturnen und neue Kunststücke einüben.
Auf einmal sah sie, wie Käpten Sturm aus der Kapitänskajüte herauskam.
Schnell ließ sie sich an einem Seil hinab und stand nur Sekunden später neben dem Mann, dem sie so viel zu verdanken hatte. „Weißt du eigentlich, wo es hingeht?“, fragte sie ihn.
Boynen lächelte überrascht. „Safira! Wo kommst du denn so plötzlich her? Ich habe dich gar nicht gesehen.“
„Ich saß gerade in der Takelage, und zwar beim Fockmast.“
„Wir fahren nach Norden“, beantwortete Boynen nun ihre Frage.
„Dass wir Richtung Norden segeln, merke ich auch. Aber weißt du schon, wo sich Aurora aufhält?“
„Nein, aber wir werden es herausfinden.“
„Und wie?“
„Zunächst einmal segeln wir nach Kopenhagen, wo ich noch etwas zu erledigen habe. Von dort geht es weiter nach Wargate in Großbritannien. Da gibt es ein paar berüchtigte Hafenkneipen, in denen sich viel Gesindel herumtreibt. Ich hoffe, dass wir dort erfahren können, wo sich der Schwarze Pirat aufhält.“
„Was meinst du mit Gesindel?“
„Diebe, Schmuggler und auch echte Piraten.“
„Ist es nicht gefährlich, mit solchen Leuten zu reden?“, fragte Safira etwas beklommen.
„Klar, aber es ist unsere einzige Chance, Aurora zu finden.“
„Wann sind wir dort?“
„In knapp vier Tagen, wenn der Wind weiterhin so günstig bläst wie bisher.“
„Und was machen wir davor – in Kopenhagen?“
Das wollte Boynen ihr jedoch noch nicht verraten. Deshalb lenkte er schnell ab. „Ach, Safira, du hast anscheinend nichts zu tun. Könntest du vielleicht mal das Deck schrubben?“
Er zeigte auf den Dreck, der sich überall angesammelt hatte. Dabei wandte er sich ein wenig ab, um alles genau zu betrachten. Doch als er sich wieder zu Safira umdrehen wollte, war sie verschwunden.
Zufrieden lachte Käpten Sturm in sich hinein. Es hatte funktioniert … Wenn Safira erst einmal angefangen hatte, Fragen zu stellen, war es immer ganz schwer, sie wieder loszuwerden. Doch mit einem bestimmten Wort konnte man sie mühelos verscheuchen: schrubben.
Auch diesmal hatte sie sich aus dem Staub gemacht, kaum dass er dieses Wort erwähnt hatte.
Boynen nahm das Fernrohr in die Hand und stutzte. Vor ihnen lag tatsächlich schon die Stadt Kopenhagen. Sie waren viel schneller vorangekommen als sonst.
Er musste noch ein paar Vorbereitungen treffen für das, was er dort vorhatte. Und er wusste schon jetzt, dass es ganz schön gefährlich werden konnte …
In Kopenhagen war es schon dunkel geworden. Boynen, Brummel, Seebär und Safira standen vor einer großen Villa.
„Hier ist es“, flüsterte Boynen. „Hier wohnt Jonte Hartog – der Mann, der meinem Vater damals seine wertvollsten Seekarten gestohlen hat. Und diese Seekarten brauchen wir dringend, um Aurora zu befreien.“
Safira schaute ihn mit ihren großen braunen Augen erstaunt an. „Was? Hier wohnt ein Dieb? Aber warum sollte ein Mann, der in so einer prächtigen Villa wohnt, es nötig haben zu stehlen?“
Seebär legte seinen schweren Arm über Safiras Schulter. „Weißt du, Safira, dieser Mann ist nur deshalb so reich geworden, weil er andere Menschen bestohlen hat. Glaub mir, er ist ein ganz gemeiner Gauner.“
„Und warum kommt er dann nicht ins Gefängnis?“
„Weil er sich nicht erwischen lässt. Außerdem stiehlt er nicht selber, sondern lässt die Raubzüge von anderen Leuten durchführen.“
„Genau“, bestätigte Brummel. „Dieser Herr Hartog hat eine ganze Armee von Dieben, die für ihn arbeiten. Sie schleichen sich nachts in Häuser und nehmen alles mit, was ihnen in die Finger kommt.“
„Und dann liefern sie die gestohlenen Sachen bei Hartog ab und er zahlt ihnen Geld dafür“, erklärte Boynen. „Er verkauft das Zeug für ein Vielfaches weiter und verdient daran ein Vermögen.“
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