Doch Safira konnte sich nicht darüber freuen, weil ihr der Kopf wehtat. Und sie wusste auch, dass der Jubel nur von kurzer Dauer war. Die Piraten wollten mehr sehen, vor allem noch gefährlichere Kunststücke.
„Ich kann nicht mehr!“, jammerte sie leise vor sich hin.
Aber es nützte nichts, denn jetzt kam der Höhepunkt des Abends: ein Seiltanz in schwindelerregender Höhe. Safira verließ die kleine Bühne und ging auf einen hohen Baum zu. Geschickt kletterte sie hinauf – bis zu der Stelle, an der ein Seil befestigt war. Von unten hörte sie, wie die Piraten sie begeistert anfeuerten:
„Safira! Safira! Safira …“
Die junge Artistin schaute auf das Seil, das in knapp vier Metern Höhe von einem Baum zum anderen gespannt war. Darunter war kein Wasserteich oder Sicherungsnetz, ja, nicht einmal Gras, sondern nur ein harter Boden, der mit Steinen übersät war.
Safira wusste: Wenn sie aus dieser Höhe auf die Steine fallen sollte, würde sie sich bestimmt einige Knochen brechen.
Doch das Verletzungsrisiko war noch nicht einmal das Schlimmste. Es gab etwas anderes, vor dem ihr noch mehr graute: Genau in der Mitte der zu überwindenden Strecke befand sich eine tiefe Grube, in der ganz viele Schlangen herumkrochen. Wie gebannt starrte Safira dorthin.
Ekel überkam sie und ihr Herz raste vor Aufregung.
Schließlich holte sie tief Luft. Sie musste sich konzentrieren, sonst war alles aus. Sie musste über dieses Seil balancieren. Und dabei durfte sie auf keinen Fall nach unten schauen.
Normalerweise wäre es für sie gar kein Problem gewesen, über so ein Seil zu spazieren. Doch heute – heute war alles anders. Ihr war schon ein wenig schwindelig. Bestimmt würde sie das Gleichgewicht nicht halten können und geradewegs in die Schlangengrube stürzen …
Nein! Das durfte nicht sein. Safira sprach sich selber Mut zu: „Du schaffst das, Safira!“
Zitternd nahm sie die Balancierstange in die Hand, die sie bei ihren vorigen Auftritten in der Baumkrone zurückgelassen hatte, und trat barfuß aufs Seil. Der Mond erleuchtete alles mit hellem Schein.
„Safira, Safira, Safira!“, brüllten die Piraten.
Schritt für Schritt bewegte sich die junge Artistin über das stark schwankende Seil, unter sich den Steinboden. Anstatt hinunterzuschauen, blickte sie auf das Ziel am anderen Ende. So konnte sie mühsam das Gleichgewicht halten.
Doch mit einem Mal wurde sie unsicher. Wie weit war sie schon gekommen? War die Schlangengrube etwa genau unter ihr?
Obwohl Safira dagegen ankämpfte, konnte sie nicht anders, als nach unten zu schauen. Dabei fiel ihr Blick direkt in die Grube, in der es vor Schlangen nur so wimmelte …
Entsetzen packte sie. Das Blut schoss ihr in den Kopf und ihr wurde schwarz vor Augen. Sie begann zu schwanken und ließ die Balancierstange fallen.
Jetzt stand sie ohne irgendein Hilfsmittel auf dem Seil und versuchte mit rudernden Armen, das Unglück noch abzuwenden.
Doch es gelang ihr nicht. Sie verlor das Gleichgewicht und stürzte hinab …
In diesem Moment bewegte sich ein Busch, der direkt neben der Schlangengrube stand. Blitzschnell kam ein junger Mann zum Vorschein, der nun mit ausgestreckten Armen über die Schlangengrube hinwegsprang.
Genau zur richtigen Zeit! Denn Safira plumpste ihm direkt in die Arme.
Ehe sie sich versah, war sie auf der anderen Seite gelandet. Zwar hatte der junge Mann so viel Schwung, dass er mit Safira in seinen Armen zu Boden fiel. Aber da an dieser Stelle hohes Gras wuchs, verletzte sich keiner von beiden.
Erleichtert lagen sie nebeneinander im Gras.
Sekunden später stand der junge Mann auf, reichte Safira die Hand und zog sie hoch.
„Wer bist du?“, fragte Safira und schaute ihren Retter bewundernd an.
Der hob seinen Hut auf, der ihm bei dem Sprung vom Kopf gefallen war, drückte ihn gegen die Brust und verbeugte sich. „Käpten Boynen Wilbert Sturm – zu deinen Diensten!“
Danach setzte er seine Kopfbedeckung – einen typischen Seefahrerhut mit einer Fasanenfeder als Schmuck – wieder auf und grinste breit.
Die Piraten, die Safiras spektakuläre Rettung mit angehaltenem Atem verfolgt hatten, waren stumm vor Staunen. Alle starrten auf den gut aussehenden Fremden, der blonde Haare hatte und eine schneidige Kapitänsuniform trug.
Wer war dieser Kerl, der Safira so wagemutig vor dem Sturz in die Schlangengrube bewahrt hatte? Wo kam er so plötzlich her? Und vor allem: Was hatte er überhaupt auf ihrer Pirateninsel zu suchen?
Entschlossen stand der Piratenkapitän auf und marschierte auf Safira und den Blonden zu. „Wer bist du und was machst du hier?“, fragte er barsch.
Mit leuchtenden Augen, die vor Abenteuerlust nur so sprühten, schaute Safiras Retter ihn an. „Sagte ich bereits! Mein Name ist Boynen Wilbert Sturm. Und ich bin hier, um euch Piratenpack mal so richtig kräftig in die Suppe zu spucken.“
Da fing der Pirat schallend an zu lachen und drehte sich zu seinen Leuten um. „Habt ihr das gehört? Der Kerl will uns drohen! Leute, das wird ein Spaß!“, verkündete er mit seiner rauchig-krächzenden Stimme.
Er wandte sich wieder zu dem Blonden um.
Doch der hatte schon seinen Degen gezückt und hielt ihn dem Piraten nun direkt an den Hals.
Dann machte er mit der Waffe eine blitzschnelle Bewegung nach unten. Dabei durchschnitt er dem Piraten den Gürtel seiner Hose, sodass diese hinunterrutschte und der Pirat nur noch in seinen Unterhosen dastand.
Gleich darauf wanderte die Klinge wieder an den Hals des Piraten. „Stimmt! Macht mir echt einen Riesenspaß, das Ganze“, erklärte der junge Mann ganz gelassen. „Und wenn du jetzt schön brav und artig bleibst, dann lasse ich dich am Leben!“
Besorgt betrachtete Safira den Piraten, dessen Augen vor Zorn glühten. Was würde jetzt geschehen?
Dann schaute sie wieder auf ihren Retter. Der ließ sich von dem bösen Blick des Piraten nicht einschüchtern. Im Gegenteil – er schien sich seiner Sache sicher zu sein, denn er legte die Finger seiner linken Hand in den Mund und pfiff laut.
Als ob sie auf dieses Signal nur gewartet hätten, traten plötzlich zehn bewaffnete Seeleute aus dem Dickicht hervor. Sie richteten ihre Gewehre auf die völlig verdutzten Piraten.
„Die Hände hoch und hinter den Kopf! Bleibt sitzen und macht keine Dummheiten!“, rief ihnen ein kräftig gebauter Matrose im Befehlston zu. Er hatte einen Vollbart und trug eine lustige blaue Kappe mit gelben Tupfern.
Alle gehorchten – das heißt fast alle, denn zwei Piraten sprangen auf und griffen nach ihren Waffen. Einer von ihnen war der Einäugige, der Safira so schlecht behandelt hatte.
Doch der bärtige Matrose, dessen Spitzname Seebär lautete, trat ihnen sofort entgegen. Er holte aus und streckte die beiden mit seiner rechten und linken Faust gleichzeitig nieder. Dann packte er sie und setzte sie unsanft auf ihren Platz zurück, wo sie nun kleinlaut sitzen blieben.
Einem anderen Matrosen sah man an, dass er ebenfalls bärenstark war. Er trug eine rote Kappe mit weißen Punkten, unter der lockige braune Haare hervorwucherten. „Sonst noch jemand, der Lust auf eine Sonderbehandlung hat?“, fragte er die Piraten.
Alle schwiegen, und der Matrose, der Brummel genannt wurde, fuhr fort: „Keiner? Na gut, dann verrate ich euch mal, wie es weitergeht: Also, ihr marschiert jetzt einzeln, einer nach dem anderen, in diese Hütte dort.“
Er zeigte auf das kleine Gebäude, in das Safira noch kurz zuvor eingesperrt gewesen war. „Und wenn ihr alle lieb seid und mitmacht, dann tun wir euch nichts. Wer ist der Erste, wer meldet sich freiwillig?“
Niemand bewegte sich. Alle blieben still sitzen.
„Keiner! Na gut, dann suche ich mir eben selber einen Freiwilligen aus!“ Er packte einen der am Tisch sitzenden Piraten am Kragen, stellte ihn mit unglaublicher Kraft auf den Boden und erklärte: „So! Du bist der Erste! Los! Abmarsch!“
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