Lenny runzelte die Stirn. Er hasste Verbote! Insgeheim beschloss er, sich nicht an diese Regel zu halten. Er würde irgendwann mal heimlich in den Schuppen reingehen.
Doch das hatte Zeit. Zunächst einmal wollte er sich in Ruhe das Haus anschauen. Denn dort gab es bestimmt auch einiges zu entdecken.
Andreas durchschaute seinen Sohn. „Lenny! Denk nicht einmal dran, die Scheune zu betreten, sonst gibt es richtig Ärger!“, warnte er.
Schnell lenkte der Elfjährige ab. „Was ist mit Opa Abraham und Oma Sarah? Ziehen die auch hier bei uns ein?“
Mama schüttelte den Kopf. „Nein, die behalten ihre Wohnung in Bodenwald. Aber ich bin froh, dass wir jetzt endlich ganz nah bei ihnen wohnen.“
„Ja, das ist wirklich genial“, stimmte Lenny zu. „Früher war es eine halbe Weltreise, wenn wir sie besuchen wollten. Und jetzt können wir einfach mit dem Fahrrad zu ihnen fahren. Ich freu mich.“
„Das war auch einer der Gründe, warum wir hierherziehen wollten“, erklärte Mama. „Außerdem hat Papa hier eine gute Arbeit gefunden. Er ist jetzt der neue Manager eines Ferienhotels.“
„Papa ist Chef!“, riefen Lenny und Anne wie aus einem Munde und klatschten einander ab.
Schon vor einigen Minuten hatte Papa das Auto vor dem Haus geparkt und den Motor abgestellt. Nun forderte er die anderen auf: „Alles aussteigen, bitte! Herzlich willkommen im alten Schmugglerhaus von Bodenwald!“
Nach dem Abendessen putzte Familie Schmidt erst einmal die Wohnung. Alle mussten mithelfen, auch Lenny und Anne.
„Wann kommt denn der Umzugswagen?“, stöhnte Lenny, der überhaupt keine Lust zum Putzen hatte. Lieber hätte er dabei geholfen, die Möbel hereinzutragen.
„Erst morgen“, erklärte Papa. „Aber wenn ihr eure Aufgaben erledigt habt, könnt ihr euch gerne mal im Haus umschauen.“
Das ließen sich Lenny und Anne nicht zweimal sagen. Als sie mit allem fertig waren, machten sie sich sofort aus dem Staub. Und weil es draußen zu regnen angefangen hatte, kletterten sie auf den Dachboden, der über eine Holzleiter zu erreichen war.
Dieser Raum war vollgestopft mit alten Gegenständen, die dem vorigen Besitzer des Hauses gehört hatten. Er war im Alter von 99 Jahren gestorben, und offenbar hatte sich keiner seiner Erben für diese Sachen interessiert.
Ganz im Gegensatz zu Anne und Lenny: Sie schauten sich jeden Winkel des großen Dachbodens genau an, denn es gab viel zu entdecken. Anne bewunderte ein paar ausgestopfte Tiere. Ein Papagei, der schon ein wenig zerrupft aussah, gefiel ihr besonders. Lenny interessierte sich hingegen mehr für ein Fernrohr und ein paar alte Seekarten, die er in einem verstaubten Schrank fand.
Unter ein paar uralten Teppichen kam eine große Holzkiste zum Vorschein, die mit einem schweren Metallriegel verschlossen war.
„Was da wohl drin ist?“, überlegte Anne.
Lenny fuhr über das raue Holz, das mit Metallstreben versehen war, und pfiff durch die Zähne. „Das ist eine echte Seefahrerkiste! Sie sieht auf jeden Fall genauso aus wie die in dem Seefahrermuseum, in dem ich letztes Jahr mit Opa Abraham gewesen bin.“
Er schob den Riegel zurück und versuchte, den Deckel der Kiste anzuheben, was ihm aber nicht gelang. „Du, Anne, hilf mir mal, das Ding aufzumachen!“
Gemeinsam zogen sie an einer robusten Halterung am Deckel. Und mit vereinten Kräften gelang es ihnen tatsächlich, die Kiste zu öffnen.
„Da drin ist ein Hut!“, rief Anne aufgeregt.
„Ja, ein Seefahrerhut, und daneben liegt eine Seefahreruniform“, stellte Lenny begeistert fest. Er ergriff den Hut und setzte ihn auf.
„Steht dir überhaupt nicht“, kicherte Anne. „Sind das wirklich Seefahrerklamotten?“
„Klar! Sieht man doch“, meinte Lenny, der sich mit so etwas gut auskannte. Als Fan von alten Seefahrergeschichten hatte er schon sehr viel darüber gelesen. Außerdem besaß er einige Filme über Seefahrer und Piraten, die er sich immer wieder anschaute.
Anne nahm die Uniform in die Hand und schnupperte. „Die riecht aber muffig! Zieh die bloß nicht an!“
„Keine Angst, die ist mir sowieso viel zu groß“, behauptete Lenny. „Genau wie der Hut auf meinem Kopf.“
Nun betrachtete Anne ein Metallstück an der Vorderseite des Huts. „Du, da stehen Zahlen drauf. Moment mal … eins … sieben … neun … und zwei … 1–7–9–2“, wiederholte sie zufrieden.
Lenny nahm den Hut ab und schaute sich die Zahl selber an. Dann grinste er. „Das heißt siebzehnhundertzweiundneunzig! Das ist eine Jahreszahl.“ Seine Augen leuchteten. „Du, Anne, weißt du, was das bedeutet?“
„Nein!“
„Es kann gut sein, dass der Hut aus dem Jahr 1792 stammt.“
„Wie alt ist er dann?“, wollte Anne wissen.
„Steinalt, würde ich sagen. Lass mal rechnen … Also, 8 plus 200 … Dann wären bis zum Jahr 2000 also schon 208 Jahre vergangen, dazu kommen noch …“
Aber Anne, die Mathematik hasste, hatte sich bereits abgewandt. So wichtig war das dann auch wieder nicht. Da schaute sie sich lieber noch einmal den ausgestopften Papagei an.
Lenny untersuchte die Kiste inzwischen genauer und entdeckte darin einen Kompass, ein fest verschlossenes Tintenfass und eine Schreibfeder. Und ganz unten lag ein Stapel altes Papier.
Alles war in einem sehr guten Zustand, was Lenny wirklich wunderte. Denn er wusste, dass solche Sachen normalerweise mit der Zeit kaputtgehen.
„Anne!“, rief er laut.
„Ja?“
„Findest du nicht auch, dass der Inhalt der Kiste total gut erhalten ist, obwohl diese Sachen ja schon über zweihundert Jahre alt sind?“
Anne kniff ihre grünblauen Augen zusammen. „Stimmt! Die sehen noch richtig gut aus. Woran liegt das?“
Nachdenklich strich Lenny mit dem Finger zuerst über den äußeren und dann über den inneren Rand der Kiste. Anne machte es ihm nach.
„Vielleicht liegt es ja an der Kiste. Die Innenseiten fühlen sich nicht so an, als ob sie aus Holz wären“, murmelte Lenny.
„Stimmt, fühlt sich eher an wie Gummi“, stellte Anne fest.
Lenny nickte. „Genau, deshalb hat es auch ein wenig geklemmt, als wir sie öffnen wollten.“
Plötzlich hatte er eine Idee: „Aber klar doch! Durch die Gummischicht war die Kiste komplett luftdicht abgeschlossen. Und ich habe mal gehört, dass so verhindert werden kann, dass Dinge kaputtgehen.“
„Toll!“, rief Anne. „Aber die Uniform riecht trotzdem muffig.“
Neugierig nahm sie nun den Stapel vergilbtes Papier in die Hand. Die einzelnen Seiten waren zu einem Heft zusammengeklebt, auf dessen Deckblatt einige Worte standen. „Das ist aber eine schreckliche Krakel-Schrift, die keiner lesen kann!“, beklagte sie sich.
Lenny griff nach dem Heft und betrachtete es. „Also, ich finde, dass die Schrift ziemlich sauber und ordentlich ist. So hat man eben früher in Deutschland geschrieben.“
Anne schaute ihn mit großen Augen an. „Kannst du das etwa lesen?“
„Vielleicht, Opa Abraham hat es mir mal beigebracht. Ich versuche es mal: Logbuch der Reisen von Käpten Wilbert Boynen Sturm – Teil 1.“
Lenny blickte auf. „Du, Anne! Weißt du, was das ist?“
„Ein Logbuch?“
„Genau. Es ist das Tagebuch eines Kapitäns. Und sein Name lautet Käpten Wilbert Boynen Sturm.“
„Poaah! Das ist ja klasse! Kannst du mir etwas daraus vorlesen?“
Lenny blätterte die erste Seite um und runzelte die Stirn. „Na ja, leicht fällt es mir nicht gerade, diese altdeutsche Schrift zu lesen. Ich müsste etwas mehr üben.“
Beide schwiegen.
„Vielleicht kann uns Mama oder Papa den Text vorlesen. Komm, wir gehen runter“, schlug Lenny vor.
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