FRANK STEINHOFER
ROMAN
Erste Auflage
© 2021 by Secession Verlag Berlin
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Christian Ruzicska
Korrektorat: Peter Natter
www.secession-berlin.com
Gestaltung und Satz:
Erik Spiekermann und Marco Stölk, Berlin
Herstellung: Daniel Klotz, Berlin
ISBN 978-3-96639-033-0
eISBN 978-3-96639-034-7
Für die fünfte Himmelsrichtung .
BETON BETON
Kapitel 38
Kapitel 37
Kapitel 36
Kapitel 35
Kapitel 34
Kapitel 33
Kapitel 32
Kapitel 31
Kapitel 30
Kapitel 29
AUFBRUCH
Kapitel 28
Kapitel 27
Kapitel 26
Kapitel 25
Kapitel 24
Kapitel 23
Kapitel 22
Kapitel 21
Kapitel 20
Kapitel 19
Kapitel 18
Kapitel 17
Kapitel 16
Kapitel 15
Kapitel 14
Kapitel 13
Kapitel 12
Kapitel 11
LEHM
Kapitel 10
Kapitel 09
Kapitel 08
Kapitel 07
Kapitel 06
Kapitel 05
Kapitel 04
Kapitel 03
Kapitel 02
Kapitel 01
ANMERKUNGEN
DIE NATUR stach ihm ins Auge. Erst ein Baum, dann Bäume, dann zog ihn der Dschungel in seinen Bann. Viktor blickte tief hinein in die bedrohlich wirkende Dunkelheit. Er hörte Schreie, Scharren und Rascheln im Unterholz. Eine Kugel zischte an seinem Kopf vorbei und drang krachend in den Stamm eines Baumriesen. Viktor schrak auf und rannte los. Lianen schlugen ihm ins Gesicht, ein zweiter Schuss fiel, streifte ihn. Er stürzte, seine Hand grub sich in den feuchten Grund des Waldes. »Steh auf!«, feuerte er sich an und erhob sich wieder. Seine Beine – er spürte sie kaum mehr, aber sie trugen ihn. Sie trugen ihn schneller, als er denken konnte in den immer dichter werdenden Dschungel hinein.
Er sprang über aststarke Wurzeln, sah herumgeisternde Schatten, Vögel und direkt vor ihm eine Kreatur, die zischend zurückwich. Er blieb stehen, schaute sich um. Ein rotes Glühen durchbrach den Wall aus Blättern. Die Magmatürme, dachte er, der Countdown für die Sprengung wird gleich beginnen. Er spurtete los, vom Mut getrieben, den der Anblick der angestrahlten Türme in ihm hervorrief. Er sah die Liane nicht, auf die er zulief, knallte mit dem Kopf gegen sie, taumelte und fiel zu Boden.
Stille, das Keuchen der Erde.
Sein Blick bewegte sich entlang der aufragenden Stämme, wanderte von Ast zu Ast, verlor sich in den Kronen der Bäume, erfasste das schimmernde Firmament über ihm. Er schloss die Augen. Ein Nachglühen der Gestirne warf rote und gelbe Punkte auf seine Netzhaut. Als er die Augen wieder aufschlug, sah er blitzendes Metall über sich. Ein Schatten baute sich vor ihm auf. »Das Ende, amigo!« Die Stimme drang zu ihm, erst leise, dann lauter werdend; sie war ihm vertraut. Ein letzter Schuss.
FERNANDA RAÍZ stieß einen Seufzer in die Welt hinaus: Regen prasselte auf die Erde, flutete die Straßen, schlug auf ihrer Veranda auf und schwemmte den Schmutz des Tages fort. Der Smog, der gerade noch Himmelskuppel und Atemwege belegt hatte, löste sich auf, und plötzlich bot sich ihrem Blick hier und da das Blau eines ansonsten von Wolken dicht verhangenen Himmels. Vor ihr blitzten die hohen Türme von Banken und Geschäftshäusern auf, ihr langer Schatten verdunkelte die kleineren Mietshäuser mit ihren Restaurants und Cafés auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Autos stockten am Straßenrand, eine Frau stellte sich unter das Blechdach ihres Verkaufstandes, fing Regenwasser auf und reinigte damit ihre Herdplatte. Die Luft roch frisch, und seltsam: Fernanda vermochte die Züge von Mexico City nicht mehr zu deuten, das im Wolkenbruch unterging. Diese riesige Stadt – atmete sie auf. Jede Nacht schliefen Abermillionen erschöpft ein, um sich tags darauf wieder zu erheben. Das Licht dieses schwülen Tages, das eben noch Palmen und Gesichter hatte erglühen lassen, wich einer unter heftigen Böen aufziehenden Dunkelheit. Fernanda ging über die Außenwendeltreppe zurück in ihr »Observatorium«, wie sie ihr Arbeitszimmer pathetisch nannte. Von hier aus konnte sie das Viertel ringsum, aber auch die Entwicklung der bedrohten Pflanzenarten, die sie hier versammelt hielt, in Ruhe beobachten. Eine Deckenlampe strahlte auf, kaum, dass sie den Raum betreten hatte, und bildete um das Kabinett ihrer Pflanzen einen goldenen Lichtkreis. Sie näherte sich zögerlich einer Pflanze, die ihr ein befreundeter Kunstsammler geschenkt hatte. Sie öffnete leicht ihre Hand. Ihr Zeigefinger schwebte für einen Moment in der Luft, senkte sich dann herab und berührte mit aller Vorsicht den zarten, behaarten Stiel der Pflanze.
Einer Pflanze, die weinte.
Ihre Fingerspitze glitt über den Stängel, über die hauchzarten Blätter und erntete mit einer sanften Bewegung die zähflüssigen Tränen, die auf ihrem Handrücken zu Perlen verschmolzen. Wie faszinierend, dachte sie. Sie fühlte sich vom Anblick des Grüns in ihrem Observatorium erfüllt, hegte aber noch Argwohn gegenüber diesem fleischfressenden Geschenk des Kunstsammlers: Byblis Lamenta , benannt nach einer griechischen Göttin und dem Rinnsal ihrer Tränen. Das Weinen selbst hatte die Pflanze zur Tarnung erhoben, um mit dem Schleim ihrer Drüsen ihre Opfer in den Tod zu locken. Ein feiner Mechanismus, wie Fernanda fand; feiner als etwa derjenige der Venusfliegenfalle, die eher mit weiblicher Verführung verglichen wird als mit männlicher Begierde. Viel zu oft fühlte sie sich von dieser brüsken Männlichkeit bestürmt. Kaum ein Reiz, kaum eine erste Berührung, und schon entzündete sich bei ihren Verehrern die Gier nach Befriedigung und schlug meist in Verachtung um, sofern sie diese nicht rasch genug erfüllte, und mit ihr in jenen hasserfüllten Blick, der ihr zu verstehen gab, dass sie als Frau Anfang fünfzig froh sein sollte, wenn ihr Körper überhaupt, geschweige denn liebevoll, noch angefasst würde. Was für eine Zeitverschwendung, dachte sie und musterte ihr Gesicht im Spiegel der Fenster: Buschige Brauen, ausgeprägte Wangenknochen, eine lange, schlanke Nase, darunter ihr sanfter Mund, der wählerisch mit Worten war, doch weit und großzügig im Lachen; eine feine Nackenlinie, und dichtes, schwarzes Haar mit bläulichem Schimmer, das sie heute zu einem Zopf gebändigt hatte, der ihre großen walnussbraunen Augen betonte, die, wie sie fand, in ihrer Sprache schöne Dinge sahen. Nein, Bewunderung war für sie nie eine Frage schneller Entfaltung gewesen, Erregung keineswegs die Erzählung eines Blitzes. Das hatte ihr Leben anspruchsvoller werden lassen – und wesentlich einsamer. Sie blickte zur Seite. Draußen wurde es dunkler, das Observatorium wirkte nun wärmer auf sie. Sie lockerte den Gürtel ihres Hausmantels und sah hinüber zu Zitlali in der Mitte des Raumes. Landkarten lagen auf dem Boden verstreut. Das Mädchen studierte, vom Bann des Unentdeckten angezogen, ihrem kindlichen Bewusstsein ferne Winkel der Welt. Fernanda war vom Schicksal dieses Kindes berührt. Bei einem Unfall hatte es seine Eltern verloren. Seither hatte Zitlali bei ihr ein Zuhause gefunden. Der Unfall – sie stockte und trat näher an das Mädchen heran, legte ihr behutsam die Hand auf den Rücken, als legte sie ein Pflaster auf eine Wunde. Wie durch ein Geräusch aus dem Schlaf geschreckt, zuckte Zitlali zusammen und schaute empor.
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