»Welche Maske passt zu dir?«
Viktor schrak auf. Der hochgewachsene Mann aus der Abendgesellschaft stand im Halbschatten und deutete auf die Vitrine. »Welche Maske?«, fragte der Fremde erneut und trat in den fahlen Lichtkegel der Deckenlampe. Viktor sah das straff gespannte Trapez dieser Schultern. Von Nahem betrachtet war die Nase des Fremden ähnlich krumm wie seine eigene, eine grässliche Wunde zeichnete sich unter dem Auge ab, etwas mit seinem Ohr stimmte nicht. »Verrät die Maske nicht mehr über den Menschen als sein Gesicht?« Das war keine wirkliche Frage, eher eine Mitteilung, mit tiefer Stimme in den Raum geworfen. Der Fremde legte seine kräftige Hand auf Viktors Schulter. »Damion«, stellte er sich vor. Viktors Mundwinkel sprangen hin und her, mit Mühe hielt er Worte zurück, die aggressiv geklungen hätten. »Warum so einsam?«, fragte der Fremde.
»Unter Geistern ist man nicht einsam«, schnellte es aus Viktor heraus, ohne dass er das Gefühl hatte, Herr der Lage zu sein. »Aber ja, wir sollten zurück zu den andern.«
Sie liefen nebeneinander an den Ausstellungsobjekten vorbei, durchschritten diverse Kammern, sahen hier irgendwelche Vogelfedern, dort zu Schmuck oder Werkzeug bearbeitete Metalle. Eine Schautafel dokumentierte die Vermessung von Körpern indigener Gemeinschaften. Stirnbreite, Länge der Augen, Orbitalhöhe, Abstand der Brustwarzen, Umfang des Halses, des Leibes auf Nabelhöhe, der Oberarme, der Unterarme, der Waden, die Entfernung vom Tragun zur Nasenwurzel, die Entfernung vom Tragun zur Mitte der Oberlippe, die Entfernung vom Tragun zur Mitte der Unterlippe. Der Lärm der Abendgesellschaft tönte lauter an sie heran, wenige Schritte später waren sie wieder unter den gut gekleideten Gästen. Damion musterte die Bilder an den Wänden. »Und du? Sag bloß, du malst auch hintersinnige Mandalas?«
»Ich – «, Viktor fand keine geeignete Antwort, fragte schließlich stattdessen: »Du bist nicht von hier?«
»Scharf beobachtet.«
»Woher?«
»Chicago.«
»Der Chicago River. Ein seltsamer Fluss.«
»Warum seltsam, Kleiner?«
»Ach, nicht wichtig.« Viktor argumentierte nicht mehr so gern, er bestellte lieber Alkohol.
»Nein, erzähl schon, komm!«
»Also, na ja, anscheinend ergießt sich der Fluss in den Michigan-See. Aber in Wirklichkeit ergießt sich der Michigan-See in den Chicago River. Weil der derart verdreckt war, hat man vor über hundert Jahren kurzerhand einen Seitenarm in einen Industriekanal verwandelt, die Brühe umgeleitet und das Flussbett so tief ausgebaggert, dass der See nun in den Fluss zurückfließen muss. Eine Vergewaltigung der Natur.«
»Sachte, sachte!« Damion sprach leise und legte ihm erneut eine Hand auf die Schulter. »Der Fluss ist heute ein Juwel der Stadt. Ein wirkliches Juwel. Die Leute, sie schwimmen in ihm, er macht sie glücklich.«
»Strenggenommen … « Viktor hielt inne, das Interesse an der Unterhaltung versickerte in ihm. Einige Augenblicke standen die beiden voneinander abgewandt nebeneinander da. Damion griff sich einen Cocktail vom Tablett, das ein Kellner an ihm vorbeitrug. Er warf das Rührstäbchen weg und prostete der Frau mit den dunkel umschatteten Augen zu.
»Strenggenommen hast du sie eben schon angestarrt. Sie kommt aus Venezuela«, sagte Damion, eine nimmermüde Wachsamkeit im Blick. »Vater: Weinbauer aus Chile«, ergänzte er. »Sie heißt Irene.« Sein ausgestreckter Arm ermutigte die junge Frau, doch näherzutreten. »Darf ich vorstellen?« Der Klang in Damions Stimme verwandelte sich, wurde samtweich und verbindlich. »Wie war noch gleich dein Name?«, fragte er. Vier Augen blickten Viktor erwartungsvoll an.
»Viktor Sørless.«
»Irene ist Aktivistin. Sie setzt sich für Kinder ein, die in Gefängnissen aufgewachsen sind.«
»Freut mich.« Viktor streckte ihr seine Hand entgegen. Er lächelte. Sie lächelte zurück, die nervöse Unruhe in ihrer Schulter ließ seine Hand in der Luft allein schweben.
»Vicky hier, der ist auch talentiert. Was machst du noch mal genau?« Damion hob gespannt den Kopf.
Viktor stutzte. »Architekt.« Er ging also auf das Spiel ein.
»Ich bleibe ein paar Tage in der Stadt«, sagte Irene. Sie wirkte zutraulich. »Was kann ich mir anschauen?«
Viktor schüttelte den Kopf. »In der Stadt? Nichts. Nichts wirklich Interessantes.«
Sie blickte ihn irritiert an. Hastig klopfte er sich auf die Brust und tastete sein Sakko ab.
»Vielleicht habe ich hier etwas für dich. Warte … das Haus in den Dünen.« Seine Stimme überschlug sich. »Es befindet sich gerade im Bau, an der dänischen Küste, ein hübscher Ausflug dahin. Moment … hier … das sind meine Skizzen dazu.«
»Das Haus in den Dünen?«, äffte Damion ihn ironisch nach.
»Eine Galerie im Wind«, fuhr Viktor fort. »Das Gebäude wurde für einen Berührungssynästhetiker entworfen. So jemand spürt auf eigener Haut, wenn andere sich berühren. Der Wind in den Dünen beruhigt ihn.« Nach einer Pause fügte er, schon etwas vorsichtiger, hinzu, Wind sei die Berührung der Einsamen, dann verhaspelte er sich, flüchtete sich in technische Details, sprach über das Solardach und den Lehmputz des Hauses. Seine Stimme wirkte heiser, er streifte Irene nur mit halbem Blick.
»Schön«, sagte sie dünn und blickte Damion an. Kurz vor ihrem Abgang versicherte sie, die Begegnung sei ihr eine große Freude gewesen. Viktor schaute ihr nach und entschied, in einen Winkel zu verschwinden, in den das Licht dieses Abends nicht vordrang.
»Halt.« Damion griff nach seinem Arm. »Unser Team sucht einen Architekten.« Viktor starrte ihn irritiert an. »Du verkaufst dich miserabel, aber dein Ansatz könnte jemandem gefallen. Karte?«
»Nein, nicht dabei.«
»Hier.« Damion griff nach seinem Notizblock und zückte einen Füller aus der Innentasche seines Jacketts. »Schreib auf!«
Nur widerwillig kam Viktor der Aufforderung nach, setzte unter seinen Namen seine Telefonnummer.
»Adresse?«, fragte Damion unnachgiebig. Viktor fühlte sich ertappt. Sein Büro befand sich in desolatem Zustand. Er schrieb die Adresse auf und erklärte leise: »Das ist unser altes Studio, bald ist die Adresse nicht mehr gültig. Wir expandieren.« Damion nickte desinteressiert und verschwand in der Menge.
Viktor, plötzlich alleingelassen, blickte in all die fremden Gesichter um ihn herum, die ihm nun noch fremder erschienen als die Masken in den Kammern. Er vernahm das Klirren der Gläser, den heiteren Lärm. Er trank Wein. Stand immer noch allein da. Trank wieder Wein. Irgendwann sah er den Künstler, und mit dem Künstler die Nachhut an Neugierigen; er sah Benedetto, der gelöst mit einem jungen Mann tanzte. An der Tafel hockte ein Glatzköpfiger, entsprungen aus einem Gemälde von Marc Chagall, gezeichnet von linkischer Traurigkeit. Der Typ saugte am Halm eines Cocktails, wirkte einsam, allein, verloren, sein Blick heftete sich blöde an die Beinlinie einer jungen Frau. Der Krakenmann hielt in seinen Armen noch immer das gleiche Opfer. Viktor griff wieder zu seinem Kohlestift, zeichnete das Pärchen und retuschierte das Ergebnis; er verlieh den Tanzenden einen geheimnisvollen Ausdruck. Mit einem Ruck preschte er auf das Paar zu, streckte den Arm aus, wollte dem Mann die Skizze überreichen, die, seines Erachtens, eine zärtlichere, liebevollere Version zeigte, als die beiden sie in Wirklichkeit abgaben. »Was bist du denn für ein Freak?«, fauchte der Mann erbost und schubste ihn von sich. Viktor fiel zu Boden. Die Menge wich zurück. Er stand ungelenk auf, fiel noch einmal, befühlte die Innenseite seines Schenkels, seine Leiste schmerzte, sein Kopf drehte sich. Er entschuldigte sich lallend bei den Umstehenden und humpelte auf die Treppe der Eingangshalle zu, blickte noch einmal zurück und ging dann kopfschüttelnd und irgendetwas vor sich her brummend weiter hinaus auf die Straße. Er war auch an diesem Abend der Unmöglichkeit begegnet, sich selbst zu entkommen. Man kann da einfach nichts machen, dachte er noch, bevor die kalte Nacht seinen Atem sichtbar werden ließ.
Читать дальше