STUDIO VIKTOR SØRLESS. Der Briefkasten sprang auf und Reklame quoll heraus. Viktor versuchte, die Sendungen aus der Luft zu fischen, musste aber hilflos zusehen, wie die Briefe, einer nach dem anderen, zu Boden flatterten. Es ist nicht mein Tag, dachte er sich, las die Post auf und verstaute sie gleich wieder im Briefkasten. Sein Blick blieb auf dem Firmenschild haften. Er musterte den skandinavischen Vokal in seinem Nachnamen, den Kreis mit dem aufstrebenden Strich. Das Ø symbolisiert in der Mathematik eine leere Menge, nach den vergangenen Tagen konnte er sich jedoch nicht mehr des Eindrucks erwehren, die Chiffre sei zum Zeichen seiner Gewöhnlichkeit geworden. Ein Durchschnittszeichen, mehr nicht. Er verließ den Hausflur zum Hinterhof hin, blinzelte draußen in die Mittagssonne, das Blau des Himmels war verheißungsvoll. Unter dem Druck leichter Böen neigten sich ein paar hohe schlanke Bäume einander zu, in den ersten Zweigen hing die Andeutung von Grün, wie ein Flüstern. Ein weiterer Frühling kündigte sich an. In ihm tat sich nichts auf.
Auf dem Sportplatz linkerhand spielten hochgeschossene Jugendliche mit nacktem Oberkörper Basketball. Gekonnt dribbelten sie den Ball über den Platz, schwangen sich in die Luft, versenkten ihn immer wieder im Korb. Ihre Rücken waren schweißüberzogen, trotz der noch frischen Jahreszeit. Viktor, der in den letzten Wochen eigentlich nur noch über dem Schreibtisch gebrütet hatte, gefiel die Leichtigkeit ihrer Bewegungen, die Anmut, mit der sie sich der Schwerkraft widersetzten.
Durch den Eingang zum Hintergebäude betrat er sein Büro. Augenblicklich erhob sich sein Partner Anton vom Schreibtisch. »Hey, wie war dein Wochenende?«, fragte er munter, erschrak aber sogleich über Viktors entstelltes Gesicht. »Du hast ein blaues Auge, was ist passiert?«
Viktor winkte ab. »Nicht der Rede wert.« Der Schmerz in seiner Leiste meldete sich zurück. Er humpelte an Anton vorbei hinein in einen vollgestopften Raum, den er als Labor hergerichtet hatte. Hier widmete er sich der Erforschung eines Werkstoffs, von dem er sich die Zukunft des Bauens erhoffte: Lehm.
Er legte seine Tasche neben die Messgeräte auf den Tisch und schlug mit dem Knöchel seines Mittelfingers auf einen luftgetrockneten Ziegel aus Nyanza. Er mochte den Klang wie auch die Farbe dieses Steins. Anton hatte ihn von seiner letzten Reise aus Ruanda mitgebracht. Auf den Regalböden lagen, sauber sortiert, unterschiedliche Lehmsteine. Er hatte sie alle geprüft, regelrecht auf Biegen und Brechen, und auf ihre Tauglichkeit für einen möglichen Einsatz unter klimatisch unterschiedlichen Bedingungen abgeklopft; er hatte sich mit Bodenkunde befasst, mit Gesteinsverwitterung; er träumte von einer Renaissance des Lehms, dem Baustoff der Natur, der in anderen Sprachen schlicht Erde hieß. »Mit Erde bauen«, sagte er sich immer. »Was für eine schöne Aufgabe.« Anstatt mit Zement, der in seiner Herstellung gewaltige Mengen Sand und Energie verschlang und als verarbeiteter Beton die Welt erstarren ließ.
Wenn es nach ihm ginge, würde Beton nicht als Fundament des modernen Lebens herhalten, um Zeit und Elemente zu zähmen. Aber seine Beständigkeit versprach, wonach sich die Menschen offenbar sehnten: gebaute Kontrolle. Doch Beton hinterließ Wunden. Durch ihn wurde die blaue und grüne Umwelt von Sekunde zu Sekunde grauer. Auf seinen Reisen durch Japan hatte er ein Land gesehen, das sich allmählich zumauerte. Dabei hatte er doch gedacht, Vertrauen in die Unbeständigkeit des Seins, beschrieben durch das Wort Mujō , wäre tief in der japanischen Kultur verwurzelt. »Es fühlt sich so an, als wären wir im Gefängnis, obwohl wir nichts Schlimmes getan haben«, hatte eine Austernfischerin in Yamada zu ihm gesagt und mit einem Kopfschütteln auf die häuserhohen Betonwälle vor ihrer Küste gedeutet. Sie sollen die Fluten aufhalten. Aber sie trennen die Menschen von ihrer Umgebung. »Ich kann das Meer nicht mehr sehen«, hatte die Frau noch hinzugefügt.
Lehm hingegen, Lehm bedeutete Leben. Er lag allen zu Füßen, unter der Erde, als Humus; im Grunde als Bindemittel einer humanen Bauweise. Lehm war in Wasser löslich und in natürliche Kreisläufe rückführbar. Warum wollte es die Welt nicht verstehen?
Anton betrat Viktors Büro. Es riss ihn aus seinen Gedanken. Viktor sah auf und sah die Brillengläser, die im Sonnenlicht funkelten. Anton wirkte wie ein neuzeitlicher Mönch auf ihn: das Haar kurz rasiert, ein schlichtes Hemd, blaue scharfe Augen hinter einer Brille, die unglaublich dünn wirkte, ja, fast unsichtbar. Viktor bemühte sich zu lächeln.
»Nur eine Morddrohung, diesmal«, sagte Anton und reichte ihm eine ausgedruckte E-Mail. Viktors Kehle schnürte sich zusammen, als er die Nachricht entgegennahm und durchlas.
»Leave our nature and scrap this awful building or I will kill you. Nobody wants it. Looks like a damn control tower, or a fucking bunker from WW2, what a fucking joke, yu fucking scum. Have yu no respect for our nature?«
Er zerknüllte das Papier und warf es in die Ecke. »Noch mehr Fanpost?«
Die beiden blickten sich wortlos an.
»Rechtsextreme Politiker haben sich eingeschaltet«, sagte Anton nach einer Pause. »Sie wollen das Bauvorhaben stoppen. Unser Wohnhaus sei eine Schande für die Natur – ihre Natur. Die Dänen, behaupten sie, hätten Millionen ausgegeben, um deutsche Bunker von der Westküste zu beseitigen, und jetzt komme ein ›Halbnazi‹ daher, und knalle ihnen einen neuen Schandfleck aus Beton vor die Nase.«
»Naturstein«, korrigierte Viktor. »Er stammt aus der Region. Ist das patriotisch genug?«
Anton zuckte mit den Achseln. »In ihren Augen verschandeln wir die Gegend. Der kleine Mann, fauchen sie, dürfe seine Häuser nicht ändern, geschweige denn umbauen, weil er sonst Ärger mit den Behörden kriegt. Aber wir – «, betonte Anton, »wir haben eine Baugenehmigung in den Dünen. Das sei, sagen sie, Verrat, wie die Windräder in West-Jütland.«
Viktor winkte ab. »Wir bauen nicht in, sondern an den Dünen. Außerdem hält der Bauherr zu uns. Er hat …«
»… heute abgesagt«, unterbrach ihn Anton und schob sich die Brille zurecht. Der vollkommen ruhig ausgesprochene Satz stampfte Viktor innerlich zu Boden.
»Wie bitte?« Er blickte Anton hilflos an.
»Zu viel Trubel! In mehr als 30 Ländern wurde über das Dune House berichtet. Gib das Stichwort einfach mal in eine Suchmaschine ein. Die ersten Leute fahnden schon nach dem Bauplatz. Er hat einfach Angst. Er will dort nicht mehr wohnen – und hat das Projekt abgeblasen.«
»Was heißt das?«
»Das heißt, dass wir, nach der Abfindung, …«, Anton lächelte zum ersten Mal, »pleite sind.«
»Wir haben noch den Wettbewerb.« Viktor biss sich auf die Unterlippe, wollte verkünden, dass alles gut werde, die Worte blieben ihm aber im Hals stecken. Er schielte zur Silbermedaille der Architekturschule aus seiner Zeit in London. Sie strahlte keine Zuversicht mehr aus, sondern prangte mit dem verlorenen Glanz einer nicht eingelösten Zukunft verlogen an der Wand. Sein Partner trat einen Schritt näher auf ihn zu und strich mit dem Finger über den Lehmstein. »Du weißt, Gregor und ich bekommen ein Kind. Wir haben grünes Licht für die Adoption.«
Viktor hob beide Brauen. »Du wirst ein guter Vater sein«, sagte er ruhig, und fügte hinzu: »Oder eine Mutter, wie immer du möchtest.«
Anton blieb ernst. Ihm stand nicht der Sinn danach, die Atmosphäre mit Gelächter zu reinigen. »Ich mag deine Entwürfe«, sagte er stattdessen. »Den Atriumturm oder die Mensa auf den FäröerInseln, in der sich die Studenten verlieben sollen, um so das Problem der Abwanderung zu lösen. Etwas naiv …«
»… aber?«
»Wir müssen etwas Normales bauen«, wetterte er. »Mit Beton, wie alle anderen, nicht mit Lehm. Wir haben noch die Anfrage der Tanzschule. Sie wollen einen LED-Sternenhimmel haben, der sich individuell steuern lässt, ebenso wie die Spots und Lichtvouten.«
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