Wer will es hier auch schon allzu genau wissen?, dachte er. Die Feier sollte schließlich Vergessen schenken. Die Gäste lachten, tanzten. Auf ihren Uhren verging eine sorglose Zeit. Von einigen Gesichtern glaubte er die Zufriedenheit ablesen zu können, die mit einer nicht gerade geringfügigen Spende zur Entfaltung von Kultur einherging, ganz unerheblich welcher Kultur im Übrigen, und ohne die Gefahr, dass irgendeine Weltsicht ins Wanken geraten oder etwa die Verdauung gestört würde. Eine Gruppe von Gästen versammelte sich im Schatten eines zeitgenössischen Künstlers, der gerade eben noch von jenem Kurator im faltenfreien Hemd als Person gepriesen worden war, die »wider alle Müdigkeit hintersinnige Mandalas malt, welche die Referenzhölle der Gegenwart thematisieren«.
Da stand er, Viktor, nun also, sein Notizbuch zur Seite gelegt, mitten in der Referenzhölle der Gegenwart, anteilslos an einen Ecktisch gelehnt, geduckt und mit eingezogenen Schultern, und wollte nur noch eins: verschwinden. Mit seinen fünfunddreißig Jahren hatte Viktor Sørless weder Geld noch Einfluss erlangt, geschweige denn das Gefühl erworben, dazuzugehören, und er fragte sich, warum gerade ihm eine Einladung zuteilgeworden und er obendrein dem leichtsinnigen Impuls gefolgt war, mal wieder unter Leute zu gehen – eine Wendung, die er verachtete.
Ich passe nicht ins Bild, dachte er. Ein Befund, den er weiteren Personen ausstellen mochte, die seine Aufmerksamkeit an diesem Abend erregt hatten, wie etwa ein Mann Mitte vierzig, der hochgewachsen war und aus der Menge ragte mit seinem aristokratisch aufrecht getragenen Kopf und knochigem Gesicht, das Viktor an den Wangen leicht eingefallen zu sein schien. Er trug schulterlanges, braunes Haar, besaß wache, hell funkelnde Augen. Während er auf irgendetwas herumkaute, zeigte sich in seinen Zügen eine gewisse Härte, vielleicht sogar ein ausgeprägter Zynismus, Viktor wollte das noch nicht für sich entscheiden; ein richtiges Lächeln jedenfalls würden diese Lippen nicht zustande bringen, dachte er, drückten sie doch eher eine Art Belustigung aus, eine Art Süffisanz dem Geschehen hier gegenüber, mit dem sich dieser Typ, so kontrolliert wie er dastand, ganz sicher nicht identifizierte. Seine Halssehnen wirkten straff gespannt. Der weiche Fall seiner Locken aber nahm ihm etwas von seiner Bedrohlichkeit, strahlte vielleicht sogar etwas Erotisches aus. Erstaunlich, dachte Viktor. Selten hatte ihn jemand durch seine pure Erscheinung derart eingeschüchtert, dieser Typ wirkte verwegen, unbeugsam, schien alles zu überblicken, aber nichts von sich selbst preiszugeben. Viktor trank einen Schluck Wein. Nahe am Fenster stand sein Freund Benedetto, gemeinsam mit einer Frau, auf die Benedetto schon den ganzen Abend über seine Aufmerksamkeit gerichtet hatte. Die beiden unterhielten sich. Viktor fiel das weich anmutende Gesicht der eher jung wirkenden Frau auf, deren tiefliegende Augen schwarz umzeichnet waren wie bei einem Vampir. Was nicht so recht zu ihrer sonnenverwöhnten Haut passen wollte, wie er fand. Und dann: Dieser Tick in der Schulter, der so wirkte, als wollte sie der Welt immer wieder einen Rempler verpassen. Benedetto trug ein kariertes Hemd, löcherige Jeans. Kurz, eine Garderobe, bei der alle Sorgfalt darauf verwendet wurde, sich von der Feierlichkeit des Abends abzusetzen. Mit einer Hand stützte er sich auf den Fenstersims, mit der anderen rauchte er eine Zigarette. Seine dunklen Locken fielen ihm über die Ohren; und diese Frau lächelte, mit jedem Wort, mit dem er sie scheinbar wie mit einem Lasso näher an sich heranzog.
Benedetto, der Weltenbummler, dachte Viktor amüsiert. Tatsächlich war Benedetto Rissono ein belesener Schreiberling, der Reiseberichte verfasste, Duschvorhänge betextete und sich ein paar Scheine mit halbseidenen Geschichten dazuverdiente, bis er – so sein gern verkündeter Plan – einen »großen Coup« im Journalismus landen würde, etwa mit der Aufdeckung eines »politischen Skandals«, was mit dem Aufstieg in eine neue Gehaltsklasse einhergehen würde. Viktor hatte in seinem Leben weder Freundschaften geschlossen noch gesucht. Für den zwei Jahre jüngeren Benedetto hegte er indes Zuneigung. Es war schlicht die Lebensfreude und Leichtigkeit, mit welcher dieser Florentiner auf Männer ebenso zuging wie auf Frauen, die Viktor faszinierte. Seine Kunst bestand darin, keine Handlung als Kunst aussehen zu lassen. Sprezzatura – schoss es Viktor durch den Kopf. Diese Art von Lässigkeit, die daher rührte, dass das, was man tat oder sagte, anscheinend mühelos und fast ohne Nachdenken zustande kam, ohne sichtbare Anstrengung. Gefolgt von einem Leuchten in den Augen, das jedes Gegenüber als wichtigsten Menschen der Welt auszeichnete. Schon hob Benedetto sein Weinglas, hielt es gegen das Licht und schien das tiefdunkle Rot zu bewundern. Als Viktor diese Geste ihm wohlgesonnen spiegelte, lief sein Freund auf ihn zu, schnappte sich den Notizblock und betrachtete die Zeichnungen.
»Gut getroffen«, pfiff er anerkennend und blickte sich um. Er nahm einen kräftigen Schluck, als würde er das Glas trinken, nicht den Wein. »Diesmal habe ich sogar Kleider an.«
Viktor nickte. »Das ist richtig.«
»Und wer ist diese Gestalt hier, die mit den Tentakeln?«, fragte Benedetto.
Viktor blickte dunkel auf. »Siehst du die tanzende Frau da drüben? Und der Typ an ihrer Seite? Der sieht doch aus, naja, wie … wie ’ne Krake. Die ganze Zeit über betätschelt er sie aufdringlich, schlingt seine Arme um ihren Rücken, zieht ihr Gesicht an seins ran, aber er küsst sie einfach nicht, ich versteh’s nicht, der küsst sie einfach nicht.«
»Schau an, unser Romeo träumt in seinem Notizbuch.« Benedetto ließ sein samtenes, mediterranes Lachen hören. Er zündete sich eine Zigarette an, zog so intensiv an ihr, dass sie sich heiß und schnell verzehrte.
»Und wer ist die …?« Viktors Kopf wies zum Fenster.
»Ich stelle sie dir gern vor.«
»Schon gut. – Und deine Freundin?«
»Wir sind nicht mehr zusammen.«
»Neulich hast du mir von ihr noch vorgeschwärmt?«
Benedetto hob, gemeinsam mit beiden Armen, die Augenbrauen und ließ sie auch gemeinsam wieder fallen.
»Dein Herz ist ein Stundenhotel«, sagte Viktor kühl.
»Entspann dich mal!«
Viktor blickte seinen Freund ernst an. Entspannen – diese Aufforderung war ihm lästig geworden. Er entschuldigte sich, denn er spürte, wie eine Flamme in ihm hochschlug. Er verließ den Saal, ging tiefer hinein in den Bauch des Weltkulturmuseums, durch die Kammern des sich mit Nachtgrau anfüllenden Gebäudes, bis er dessen Herzstück erreicht hatte: den Maskensaal. Der Raum war verschachtelt, von Zirpen- und Trommelgeräuschen beschallt. Er erinnerte sich, wie er als kleines Kind noch staunend diese Welt erkundet hatte. Auch jetzt wirkten die Masken wundersam auf ihn, hier wie Tiere, dort wie Gespenster. Doch je länger er sie anstarrte, desto mehr bedrückten sie ihn. Wer schaut hier eigentlich auf wen?, dachte er und fragte sich, worin der Sinn bestand, das Andersartige zu feiern, indem man es ausstellte. Eine aus Holz geschnitzte Maske leuchtete in der Aneinanderreihung der Objekte auf, ihr übermäßig großer, mit Haaren beklebter Kopf wies drei perfekt runde Löcher auf: zwei Augen und ein Mund. Viktor starrte auf den Mund. In dessen Dunkelheit hinein. Warum habe ich nie mit einem Mann geschlafen?, fragte er sich. So viel zum freien Willen, war sein nächster Gedanke, ein Gedanke, der ihm zeitlebens wichtig gewesen war. Er las die Überschriften auf dem Schild zu den Masken: Besuch der Geister .
Vor kurzem hatte er Benedetto gezeichnet, als dieser nachts in seinem Studio unangekündigt vorbeigeschaut hatte. Er wusste nicht, wie es dazu gekommen war. Plötzlich hatte Benedetto mitten im Raum gestanden und Opernmusik aufgelegt. Seine sonst gekonnte Führung des Kohlestiftes auf Papier – Benedettos Anblick hatte sie aus der Bahn gehoben, als er sein Hemd ausgezogen und über den Stuhl geworfen hatte. Viktor hatte dann auf das weiche Papier nur noch sanften Druck ausgeübt, mehr schraffiert als gezeichnet, am Ende aber waren die Linien harmonisch ausgefallen. Beim Abschied spürten sie gegenseitig ihren Atem. Eine für Viktor angenehme, aber nicht fassbare Nähe hatte in der Luft gelegen. Benedetto hatte sich mit der Hand über seine Hosennaht gestrichen, eine kurze, flüchtige, aber dennoch offensichtlich deutlich vollzogene Geste. Viktor hatte mit Unbehagen reagiert und es verborgen gehalten, anstatt es mit Benedetto zu erkunden.
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