»Was ist das?«
Fernanda beugte sich zu ihr. »Amerika. Ein Teil davon gehörte früher zu Mexiko.«
Das Mädchen nickte und fragte weiter: »Und das?«
»Japan. Dort haben viele Menschen so schöne Augen wie du.«
»Und das?« Zitlali umkreiste mit dem Zeigefinger eine Insel.
»Das habe ich eingezeichnet. Es ist Bermeja.«
»Bermeja?« Das Mädchen stutzte und spielte Harfe auf einer ihrer schwarzen Strähnen.
»Das ist eine Insel der Fantasie. Dort wohnen die Träume. Du träumst doch oft, nicht wahr?«
Das Mädchen nickte bedächtig, Fernanda fuhr fort: »Auf eine Weltkarte ohne das Land der Fantasie sollten wir niemals blicken. Es würde sich nicht lohnen.« Sie streichelte dem Mädchen über den Kopf. »Es muss ja einen Ort geben, zu dem hin unsere Gedanken reisen können. Wo es zwei Sonnen gibt, vielleicht auch drei. Wo du wunderschön Gitarre spielen kannst, am Saum eines Meeres mit glasklarem Wasser! Bist du schon einmal auf dem Rücken riesiger Schildkröten durch Flüsse gepaddelt?«
»Nein, aber kann ich nach der Schule dorthin?«
Fernanda lachte: »Ja, bestimmt.«
»Aber ich bin noch klein«, wisperte Zitlali hinter vorgehaltener Hand. »Kommen dort nicht nur Erwachsene hin? Große Frauen und Männer?«
»Große Männer haben selten Fantasie.«
Plötzlich war ein Räuspern zu vernehmen. Eine hochgewachsene Gestalt erschien im Zwielicht des Türrahmens und schmunzelte. »Das habe ich gehört.«
»Damion, so spät?« Noch hatte Fernanda sich nicht ganz gesammelt, da trat bereits der Kopf ihres Besuchers in den Lichtkegel der Lampe, was seine hohe Stirn und sein braunschimmerndes, schulterlanges Haar aufleuchten ließ. Gleichmütig wie ein Messer ging er auf sie zu. Sein nachtblauer Anzug verbarg nicht die Masse an aufgesparter Kraft.
»Alles ist vorbereitet«, sagte er und wuschelte Zitlali durchs Haar. Seine Stimme klang ruhig. »Bist du bereit?«
»Ich? Ja!«
»Eine persönliche Frage noch …«
Sie straffte den Gürtel des Hausmantels, dessen Stoff an der kleinen Wölbung ihres Bauches aufbauschte, und nickte ihm aufmunternd zu.
»Warum willst du das Museum wirklich bauen?«, fragte er ernst. »Erkläre es mir.«
»Was soll ich sagen?«, begann sie zögerlich. »Schau dich an.« Sie blickte ihm offen in die Augen. »Ein stattlicher Mann, du hast meiner Familie während der Wirtschaftskrise geholfen. Aber du bist von Geburt an privilegiert, vieles kam dir zugeflogen. Wohin du auch gehst, empfängt dich in den Augen der Menschen ein zumindest neutrales Willkommen, nicht wahr? Nur, du kennst diese abwertenden Blicke nicht.« Sie ging durch ihr Observatorium, die Ärmel ihres Hausmantels, eine Mischung aus Kimono und Kittel, wirbelten auf. »Ich bin lange mit dem Stigma herumgelaufen, anders zu sein als die Norm, als Sonderling … als Frau.« Sie griff nach dem Blatt einer Pflanze und befühlte dessen Innenseite. »Mein Handeln war eingeschränkt. Weißt du, wie viel Kraft es kostet, das zu fordern, was normal erscheint? Nicht nur Teilhabe oder Gleichheit, sondern vor allem …«, sie fahndete nach den richtigen Worten, »… die Fantasie von Glück? Ich habe ein Leben lang im Widerstand gelebt, Macht und Demütigung ertragen. Ich möchte mir und uns endlich die Räume der Fantasie zurückerobern. In ihr liegt doch für alle so etwas wie Glück, meinst du nicht?«
Damion kniff die Augen zusammen und blickte auf das Mädchen. »Utopien haben ihren Preis.«
»Wie hoch kann der wohl sein?«, fragte sie forsch. »Bei all den Krisen, all der Zerstörung. Die Welt ist allein mit ihren alten Ideen.«
»Visionen sind wirkungslos«, urteilte er mit einer abschmetternden Handbewegung. »Sie schüren nur neues Verlangen. Sei praktisch, nimm dein Geld, gib es für Sinnvolles aus.«
»Bereitest du mich gerade auf meine Kritiker vor?« Sie war erzürnt, ihre Wangen gerötet.
Damion verzog keine Miene und fügte trocken hinzu: »In Mexiko ist das Recht, ein normaler Mensch zu sein, bereits eine Illusion. Es fehlt, es mangelt, überall, an allem. Wie zynisch, nicht zuerst an den Hunger zu denken!« Seine wasserblauen Augen leuchteten auf. »Wer braucht eine Idee, wenn er nichts zu essen hat?«
»Eine andere, eine bessere Idee!«, drängte sie. »Welcher Mangel entsteht durch den Mangel an Fantasie? Was passiert, wenn Menschen, denen Ungerechtigkeit widerfährt, nie die Vorstellung eines anderen Lebens entwickeln können?«
»Hilf ihnen direkt!«, forderte er.
»Und wie?« Sie schweifte mit ihrem Blick durch das Grün. Ihre Pflanzen hatten sie gelehrt, was Fürsorge bedeutet. Sie betrachtete eine schwere, violette Blüte; atmete dann tief durch. »Diese Wesen hier haben alle ein Bewusstsein. Sie registrieren, was um sie herum passiert.«
Er strich sich unruhig durchs Haar. »Was willst du mir sagen?«
»Empathie entsteht durch Anerkennung von Bewusstsein.«
»Ja, schon gut, wir müssten neben den Tieren auch die Pflanzen ernster nehmen.«
Sie ging auf seinen ironischen Unterton keineswegs ein: »Genauer gesagt, sollten wir alles Leben ernster nehmen und uns an ein Potenzial erinnern, das allem Sein innewohnt.« Sie sah zu Zitlali hinüber, die nun im Schneidersitz auf dem Boden saß und nicht mehr länger die Karten studierte. »Die Fähigkeit zu staunen.« Sie biss sich auf die Unterlippe, ihre Stimme wurde leiser, erlosch fast. »Leben wir einfach nicht mehr gegen diesen Planeten, sondern mit ihm.«
Erneut betrachtete sie ihr Spiegelbild im Fenster. Das ewige Aufbegehren hatte sie ausgezehrt, sie war müde, ihre Nerven ausgefasert, ihr linkes Augenlid fing an zu zucken. »Wir rotten aus. Und die westliche Hemisphäre nennt es Weltgeschichte. Diese absurde Idee von Fortschritt, die immer schon auf der Ausbeutung des anderen beruhte.« Sie schüttelte heftig den Kopf. »Wann geben wir sie endlich auf? Die Überlegenheit.« Eine kurze Pause verstrich. »Und entwickeln eine Idee, die sich nicht gegen die Natur und andere Menschen richtet, sondern sie einbezieht. Dafür braucht es einen Ort, einen neuen Ereignishorizont, der sich vor den Augen aller auftut.«
Er lachte spöttisch auf. »Wie soll das klappen? Im Dschungel? Mit einem Museum?« Ein Stakkato an Fragen. Wort um Wort spitzte er provokant zu.
»Nenn es, wie du willst.« Sie zuckte mit den Achseln. »Ich glaube daran.«
Er musterte sie lange und sagte dann völlig emotionslos: »Okay, ich stelle das Team zusammen.« Aus der Innenseite seines Sakkos zog er einen Brief hervor, den er in ihre leicht zitternde Handfläche legte. »Das ist für dich. Ich werde alles in die Wege leiten.«
Sie faltete den Brief auf, fühlte das weiche Papier und begann zu lesen, erst abwartend, dann fassungslos, bis sie endlich den Brief fallen ließ und anschließend selbst zu Boden ging. In den Räumen ihres Observatoriums hatte eine Pflanze geweint. Und jetzt sie.
»Warum weinst du?«, fragte Zitlali leise.
DAMION FARABOW stand auf einer Schotterstraße. Eine Zeitung klemmte unter seinem Arm. Er blickte auf die Kirchturmuhr eines Dorfes im Norden Mexikos, das unter der brütenden Mittagssonne zu schmachten schien. Sein alter Ford wurde auf eine Hebebühne gehievt. Rund um die Werkstatt lagen ganze Wracks und einzelne Autoteile verstreut. Ein Garten voller Schrott, dachte er und schnäuzte sich die Nase. Das herumliegende Metall warf das Sonnenlicht zurück, er kniff schützend die Augen zusammen. Seit jeher hatte Schrott ein Gefühl von Heimat in ihm ausgelöst. Als Kind hatte er nicht in der Natur, sondern zwischen Bahngleisen und einem Arm des Chicago River gespielt, der zu der dreckigen Brühe eines Industriekanals verkommen war. Seine Kindheit hatte mehr Gestank gekannt als Duft.
Er blickte auf die Uhr an seinem Handgelenk: kurz vor zwölf. Es ist noch früh, rief er sich in Erinnerung. Beinahe hätte ihm die Autopanne das Ziel seiner Reise vermasselt. Erst zeichnete er mit seinen Stiefeln Kreise ins Geröll, dann stapfte er die Auffahrt entlang zu einem Imbiss an der Straße. Er ging ins Dorf, drehte eine Runde, die ihn langweilte, schlenderte dann zurück zum Imbiss, bestellte etwas zu essen, setzte sich auf einen der herumstehenden Plastikeimer. Der Verkäufer knetete Maisteig und reichte ihm wenig später einen Pappteller. Ein in die Jahre gekommenes Väterchen mit tief in die Stirn gezogenem Sombrero wiegte sich in seinem Rohrstuhl im Schatten eines löchrigen Sonnenschirms. Damion faltete seinen Taco und träufelte Chilisoße in die Mulde. Er breitete die Zeitung über seinen Knien aus: Er sah das Bild einer Leiche und las die Schlagzeile: Frau auf offener Straße erschossen .
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