Sie kletterte über Felsen hinweg und durchquerte schließlich eine Bucht. Sie traf auf ein Kind, das ihr mit seinen zarten Händen einen Regenbogen schenkte, eine Geste der Liebe, die ihr wohl und zugleich weh tat, dann bedrängte sie ein Ausländer, der ihr Drogen verkaufen wollte. Als sie dankend ablehnte, pries er seine Massagekünste an. Fernanda löste ihre Erinnerungen an diesen einst unberührten Ort in den Fluten auf.
Habe ich nicht Gleiches vor? Der Gedanke ließ sie in den Wellen erschaudern. Ihr Außenposten im Dschungel würde auch in die Natur eingreifen, mit unvorhersehbaren Folgen. Sie dachte zurück an den Brief jenes Mannes, den sie so sehr geschätzt hatte. Seine Fähigkeit zuzuhören, hatte schon gereicht, ihr Vertrauen zu einer Zeit zu gewinnen, in der ihr irgendwelche Typen noch die Handlung eines Films erklären wollten. »Schau, mi amor «, hatte sie einmal einen Verflossenen im Kino flüstern hören. »Gleich küssen sie sich. Schau, wie sie ihn ansieht. Alles nur Fassade! Die lieben sich gar nicht. Hast du bemerkt, wie sie den Musiker anschaut?«
Sie senkte den Kopf, ließ sich ins Rauschen des Meeres fallen. Ihre Erziehung war klassisch verlaufen, ihre Entfremdung auch. Sie war in einer Klosterschule ausgebildet worden, deren Werte die Frau dem Mann zur Seite stellten. Als ihr Vater erfahren hatte, dass sie lieber Zeitschriften wie La Correa Feminista las und sich als Heranwachsende in pequenos grupos organisierte, kleinen Frauenzirkeln, die Foucault besprachen, gegen den Machismo ankämpften und über die reproduktive Union aus Mann und Frau diskutierten, war er ausgerastet. Als Zeichen, dass sie verrückt sei und nicht er, hatte der Patriarch seine Tochter in die Psychiatrie einweisen lassen, das Haus des Lachens genannt. Sehr schick für jene Zeit, dachte sie nun, wie im reichen Paris. Die Tage dort waren einander sehr ähnlich verlaufen: Die Flagge ehren, Frühsport treiben, die meisten Patienten hatten erst Elektroschocks erhalten, dann eine Therapie. Es hatte in der Kolonialvilla drei Pavillons gegeben, einen für die Aussätzigen, einen für die Armen und einen für die Reichen. Sie hatte sich dort mit Señor Trenecito angefreundet, dem Mann der Züglein. Er hatte gern behauptet, Eigentümer aller Eisenbahnen der Welt zu sein sowie einer Zugstrecke, die die Erde in Zukunft mit dem Mond verbinden würde. Sie hatte Sympathie mit der grauhaarigen Frau gehegt, die stundenlang mit ihrer Lupe Insekten beobachtete und beleidigt war, wenn jemand in ihren Raum eindrang. Ein halbes Jahr Psychiatrie hatte sie nicht von dem »feministischen Unsinn« heilen können, wie von ihrem Vater erhofft. An dem Tag, als sie wieder ihr Elternhaus betreten hatte, hatte sie in ihr Tagebuch notiert:
Was ist die Realität, wenn nicht eine unaufhörliche Parodie des Lebens, ein Maskenspiel, eine bis ins Unendliche vervielfältigte Darstellung unser selbst in der Familie, im Staat, in der Bildung, den Städten und ihren Gebäuden, in der Wissenschaft, der Sexualität, im Wort, der Wirtschaft und ihrem Fortschritt, ja selbst in all den verdrängten Fragmenten, die uns ausmachen?
Vertrete nichts und niemanden, außer den einen schönen Moment der Verrückten, die ihn gemacht haben.
Ihr Weg in die Kunst schien vorgezeichnet zu sein. Allerdings hatte sie in dieser Welt wenige Verrückte getroffen, die meisten Menschen, denen sie begegnet war, stellten sich als »Scheusale« heraus, als Handlanger der Lüge oder der eigenen Eitelkeit. Sie blickte auf den Strand, er hatte sich geleert. Vor ihr lag eine Hütte, mit einer Balustrade aus Holz und einem Dach aus Palmblättern. Der Wind hatte Sand auf die Stufen geweht. Damions athletische Statur sprang ihr ins Auge, seine breiten, definierten Schultern. Selten war sie einem so gut trainierten Mann in seinen Vierzigern begegnet. Er winkte sie herbei und empfing sie auf der Veranda, die Sonnenbrille auf, in Shorts, sein Hemd war aufgeknöpft.
»Bereit, das Kernteam kennenzulernen?«, rief er ihr zu und strich sich in der gut eingeübten Gestik eines vom Leben verwöhnten Sonnyboys eine tiefhängende Strähne aus dem Gesicht. »Wir haben Fisch zubereitet«, köderte er. Seine Laune stimmte sie milde.
Sie ging an ihm vorbei, schnell fuhr ein dicht zusammengerücktes Bündel an Personen auseinander, Tische wurden verschoben, Stühle im Halbkreis arrangiert. Getuschel war hörbar, als Damion aus Fernandas Schatten hervortrat. Er hielt inne und versicherte sich der Blicke, die auf ihm ruhten. »Okay, machen wir es kurz.« Er zeigte auf eine junge Frau im Trägerhemd mit kurzgeschorenem, schwarzem Haar, spitzen Wangen und großen, grünen Augen, die sich lässig an der Tischkante anlehnte. »Sabina: in Tijuana aufgewachsen, in San Diego Kunstgeschichte studiert, in der texanischen Künstlerkolonie Marfa den Laden geschmissen.« Sabina nickte, lächelte leicht. Dann kam Damion auf Carlos zu sprechen, der still eingesunken an einem kleinen Tisch saß. »Indigene Wurzeln, großgeworden in Oaxaca, Studium der Kulturpolitik in London, enzyklopädisches Wissen über präkolumbianische Kunst.« Schließlich deutete er auf einen ehemaligen Elitesoldaten aus Guatemala, bevor er mit der Bemerkung schloss: »Ángel kennt den Dschungel wie seine Westentasche, sorgt für unser aller Sicherheit. Noch Fragen?«
An anderen Tagen wäre Fernanda näher auf die Biografien der Menschen eingegangen, die nun für sie arbeiten sollten. Heute fühlte sie sich entkräftet und hoffte, mit einem Lächeln alles zu sagen, wozu Worte nicht mehr imstande waren. Sie senkte den Kopf. »Wir haben eine lange Reise vor uns, wir sollten uns ausruhen«, gab sie dann beinahe tonlos von sich. Still zog sie an der Gruppe vorbei, ging auf ihr Zimmer und versuchte, ein wenig Schlaf zu finden. Es wollte ihr nicht gelingen. Als sie daraufhin ihren Koffer packte, schwirrten ihr lose Gedanken durch den Kopf. Es mag eine Zeit gegeben haben, dachte sie, in der ein Abstieg unter die Erde noch Geheimnisse hervorgebracht hat, kostbare Mineralien oder neue Mythen. Diese Zeit war unwiderruflich vorbei. Wo einst Schätze verborgen lagen, stinkt heute Müll. Auf der Oberfläche sah es nicht anders aus. Die Menschen hinterließen zu viele Spuren. Sie legte sich wieder aufs Bett, faltete ihre schlanken Hände über der Brust, schloss die Augen.
Vor zwei Jahrzehnten hatte sie eine Konferenz in Mexico City besucht. Dort hatte der Wissenschaftler Paul Crutzen zum ersten Mal die Ära des Anthropozäns ausgerufen. In Wahrheit, das spürte sie jetzt, war das Thanatozän angebrochen, das Erdzeitalter des Todes, des Absterbens. Niemand konnte zu einst vertrauten Orten, zur Vielfalt der Arten, zur Fülle des Lebens zurückkehren. Die Menschheit schrieb nur noch Verluste.
Auf der Veranda schwor unterdessen Damion sein Team auf die kommenden Wochen ein, im Halbschlaf hörte sie seine Worte. »Okay«, trommelte er los. »Ab heute gilt ein straffer Terminplan. Wir haben hier die besten Köpfe für unser Projekt zusammengestellt.« Stille. Die Brandung tönte herüber. Dann: »Mal sehen, ob der alte Kontinent Europa noch irgendwas zu bieten hat.«
IM MUSEUM am Rothenbaum in Hamburg zeichnete Viktor Sørless und führte den Kohlestift wie eine Sense. Ratsch – der Stift wirbelte hoch und ein Strich war vollendet. Viktor musterte seine Skizze und sah darauf feixende Gesichter mit langen Nasen und schräg stehenden, weit aufgerissenen Augen; ein Rausch an Linien und Kreisen. In den letzten Tagen hatte er tatsächlich wieder das Bedürfnis verspürt, zu zeichnen, doch allein das Halten des Stiftes, das Herumstochern in fremden Augen, Gesichtern und Körpern, kam ihm, inmitten der hiesigen Abendgesellschaft, übergriffig vor. Es störte wie ein Finger in der Wunde. Dennoch vermochte die aus seiner Hand stammende Schraffur sich wie ein Schleier über die ihn umgebende Wirklichkeit zu legen, was ihn tatsächlich beruhigte. Auch heute, in dieser mondänen Abendgesellschaft, in der er bislang die Abwesenheit von Gesellschaft war. Er war keinem Gespräch gefolgt, hatte nur kurz an dahinjagenden Lippen gehangen, sich aus dem Zentrum der tafelnden Gäste geschlichen, die sich immerzu selbst fotografierten; vielleicht, so dachte er nun bei sich, weil sie einen Mangel an Ewigkeit verspüren, zwischen all diesen Artefakten, die aus den Vitrinen heraus leise über die Zeit triumphierten. Er beobachtete, wie sich die Geladenen des Ephemeren Dinners erhoben – berauscht von der Rede des Kurators im faltenfreien Hemd, bestärkt von der Pracht des Saals, flankiert von überlebensgroßen Holzfiguren, die 1908 auf einer Südsee-Expedition »erworben« worden waren, deren eigentliche »Bedeutung« jedoch, so die angebrachte Texttafel, »nicht geklärt « war.
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