4. Auftritt:Pylades taucht wieder auf und berichtet Iphigenie von der möglichen Rettung; nun möchte der listenreiche Freund das Bildnis Dianas aus dem Heiligtum rauben. Iphigenie zögert und behauptet, dass Arkas jeden Augenblick kommen könne. Pylades aber will verhindern, dass dieser den Tempel betritt.
Plötzlich fällt ihm auf, dass »[e]in stiller Trauerzug die freie Stirne« (V. 1634) Iphigenies überschattet. Pylades versucht, sie zu überzeugen, List und Betrug seien die einzigen Mittel, um sich zu retten. Er setzt Iphigenie massiv unter Druck und macht ihr Vorwürfe: »Man sieht, du bist nicht an Verlust gewohnt, / Da du dem großen Übel zu entgehen / Ein falsches Wort nicht einmal opfern willst.« (V. 1674–1676) Während ihre Iphigenie zaudertEntscheidung noch in der Schwebe hängt, begibt sich Pylades auf den Weg, um seine Pläne zu vollenden, in der Hoffnung, dass Iphigenie lügen werde.
5. Auftritt:Die Priesterin denkt über ihre verzweifelte Lage nach: Würde sie den Plan des Pylades umsetzen, so wären die drei Griechen zwar gerettet, aber Iphigenie würde sich gegenüber den Taurern schuldig machen und den Fluch, der auf ihrer Familie lastet, fortsetzen. Sie hofft schon – seit sie auf Tauris lebt – den Fluch zu bannen: »Dereinst mit reiner Hand und reinem Herzen / Die schwer befleckte Wohnung zu entsühnen.« (V. 1701 f.)
Hin- und hergerissen zwischen diesen beiden Möglichkeiten erinnert sie sich an das »»Lied der Parcen«Lied der Parcen« (V. 1720), das sie schon als junges Mädchen kannte; es zeichnet ein schreckliches Götterbild: »Es fürchte die Götter / Das Menschengeschlecht!« (V. 1726 f.) Das Lied erzählt, wie der König Tantalus – Iphigenies Ahnherr – von Zeus und den olympischen Göttern in die Unterwelt gestoßen und das alte Göttergeschlecht der Titanen somit ausgelöscht wurde. Iphigenie indes vertraut den Olympiern, sie ist davon überzeugt, dass sie den Menschen wohlgesinnt sind, deshalb bitte sie die Götter um Hilfe: »Rettet mich, / Und rettet euer Bild in meiner Seele!« (V. 1716 f.)
1. Auftritt:Arkas berichtet Thoas von seinem Argwohn, den er gegenüber den Gefangenen und Iphigenie hegt. Zudem geht das Gerücht um, das Schiff der Gefangenen läge abfahrbereit in der Bucht. Deshalb befiehlt der König, die Fremden gefangen zu nehmen, den Hain der Göttin zu bewachen und Iphigenie herbeizubringen.
2. Auftritt:Thoas ist über das Verhalten Iphigenies enttäuscht: »Entsetzlich wechselt mir der Grimm im Busen; / Erst gegen sie, die ich so heilig hielt« (V. 1783 f.). Er bedauert, dass er zu gütig war und sie nun »List und Trug« (V. 1802) einsetze.
3. Auftritt:Iphigenie und Thoas führen einen langen Disput. Der König ist misstrauisch, weil die Priesterin die Opferung verzögert. Sie wirft ihm sein grausames Verhalten vor: »Er sinnt den Tod in einer schweren Wolke« (V. 1816). Thoas begründet sein Verhalten damit, dass »[e]in alt Gesetz« (V. 1831) ihm sein Handeln vorschreibe, und will sich so aus der Verantwortung stehlen. Auch Iphigenie bezieht sich auf die Götterwelt in der Person Dianas, die Thoas und ihr angeblich die »Frist« (V. 1808) gewährt habe, die Wiedereinführung des Opferrituals zu überdenken.
Im Verlauf der Auseinandersetzung ringt sich die Priesterin zur Iphigenie entscheidet sich für die WahrheitWahrheit durch: Sie erzählt Thoas vom geplanten Betrug (vgl. V. 1919–1936) und erhebt sich damit über die taktisch angelegte Diskussion und die grausame Götterwelt des Parzenliedes.
Damit Die Priesterin untermauert ihre Freiheitrebelliert sie aber auch gegen die dominante Männerwelt: »Ich bin so frei geboren als ein Mann.« (V. 1858) Sie möchte wie die Männer tatkräftig sein: »Hat denn zur unerhörten Tat der Mann / Allein das Recht?« (V. 1892 f.) Iphigenie bittet Thoas um »Gnade« (V. 1983), der aber ist voller »Zorn« (V. 1981) gegenüber ihren Worten.
4. Auftritt:Orest tritt mit Waffen auf, er und seine Mitstreiter wurden von den Taurern entdeckt und sind im Begriff, sich gegen die Feinde zu wehren. Auch Thoas greift zum Schwert, doch Iphigenie gebietet Einhalt, weil das Heiligtum der Diana nicht durch Mord entheiligt werden dürfe. Sie gesteht ihrem Bruder, dass sie die Fluchtpläne ihrem »zweite[n] Vater« (V. 2004) Thoas verraten habe: »Gestanden hab ich euern Anschlag / Und meine Seele vom Verrat gerettet.« (V. 2007 f.) Orest möchte von ihr wissen, ob der König ihnen die Freiheit geschenkt habe, sie bittet ihn aber vorher, das Schwert einzustecken.
5. Auftritt:Arkas und Pylades treten mit ihren Schwertern auf. Thoas bietet einen Waffenstillstand an: »Gebiete Stillstand meinem Volke! Keiner / Beschädige den Feind, so lang wir reden.« (V. 2022 f.) Orest nimmt ihn an.
6. Auftritt:Thoas verlangt Beweise, um zu belegen, Orest sei wirklich der Sohn Agamemnons. Orest präsentiert das Schwert seines Vaters, mit ihm möchte er im Kampf gegen den besten Taurer beweisen, dass er Agamemnons Sohn ist. Thoas selbst will den Kampf aufnehmen, doch Iphigenie gebietet kategorisch Einhalt: »Mit nichten! Dieses blutigen Beweises / Bedarf es nicht, o König!« (V. 2064 f.) Sie will Orests Identität durch zwei körperliche Besonderheiten beweisen: ein Hautmal »an seiner rechten Hand« (V. 2082) und eine »Schramme« (V. 2087) zwischen einer »Augenbraue« (V. 2088).
Noch aber stört Thoas der Raub des heiligen »Bild[es] der Göttin« (V. 2100): »Friede seh ich nicht.« (V. 2098) Orest klärt schließlich den Raub als ein Missverständnis (V. 2108–2117) auf, als eine falsche Auslegung des Orakels: Mit der »Schwester« (V. 2113), die von Tauris nach Griechenland gebracht werden sollte, ist nicht das Bildnis der Diana, der Schwester Apollons, gemeint, sondern die Schwester des Bittstellers Orest. Schließlich lässt Aufklärung des OrakelsThoas: »So geht!«Thoas die drei mit den Worten »Lebt wohl!« (V. 2174) in ihre Heimat ziehen.
Abb. 2: Figurenkonstellation4
Das Personenverzeichnis, das vor dem Schauspiel steht, charakterisiert die Figuren nicht, ordnet sie aber nach ihrer Bedeutung im Stück hierarchisch an:
IPHIGENIE
THOAS, König der Taurier
OREST
PYLADES
ARKAS
Die Figurenkonstellation in Iphigenie auf Tauris ist Symmetrische Figurenanordnungsymmetrisch. Im Mittelpunkt der Handlung steht Iphigenie; Orest und sein Vertrauter Pylades, Thoas und Arkas flankieren die Priesterin paarweise. Durch die symmetrische Anordnung der Figuren erfüllt Goethe das klassische Gebot nach Harmonie, Klarheit und Ordnung.
Die Dramaturgie zwischen den Figuren entwickelt sich in zwei Zwei KonfliktsphärenKonfliktsphären, die sich überschneiden und gegenseitig Impulse geben: der Auseinandersetzung zwischen Iphigenie und Thoas und der Orest-Handlung.
Iphigenie zeichnet sich durch ihr Streben nach Wahrheit und Humanität aus, Orest und Thoas lassen sich darin von ihr belehren: ihr Bruder durch die Lösung von seiner Schuldverstrickung und Orest und Thoas lernen HumanitätThoas, was sein menschliches Verhalten angeht.
Arkas und Pylades = taktische BeraterArkas und Pylades, die auch symmetrisch einander zugeordnet sind, fungieren als pragmatisch-taktische Berater von Thoas und Orest, ihnen bleibt der Bereich reinen sittlichen Verhaltens im Schauspiel verwehrt, grundsätzlich sind sie, denkt man an die utopisch-humane Botschaft Iphigenies, aber auch für die sittliche Sphäre empfänglich. Arkas und Pylades haben keine Beziehung zueinander, sie treten nur in einem Auftritt (V.5) gemeinsam auf, reden aber nicht miteinander.
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