1 ...6 7 8 10 11 12 ...28 Valentinian I. hinterließ zwei Söhne: den sechzehnjährigen Gratian und den vierjährigen Valentinian II. Als er ganz unerwartet einem Schlaganfall erlag, rief eine Gruppe von Funktionären in Trier, wo Valentinians Hof residierte, umgehend Gratian zum Kaiser aus. Zugleich jedoch machte eine andere Fraktion in Aquincum an der Mittleren Donau dasselbe mit dem kleinen Valentinian II., der seinen Vater auf dessen Feldzug begleitet hatte. Diese Aktion war nichts weniger als ein Staatsstreich. Es folgte ein langwieriger Prozess mit vielen Verhandlungen und mehreren Hinrichtungen: Diverse Hintermänner von Valentinian I. fielen der eigenen Machtgier zum Opfer, darunter der Vater des späteren Kaisers Theodosius I., bevor aus dem Wirrwarr eine neue Koalition hervorging. 31
Dass Valentinian II. das Gemetzel überlebte und zurückgezogen ins Privatleben weiterleben konnte, darf über zwei ganz grundlegende Wahrheiten nicht hinwegtäuschen: Erstens war ein Regimewechsel in der römischen Spätantike selbst innerhalb der herrschenden Dynastie in aller Regel schon deshalb eine äußerst unerfreuliche Angelegenheit, da viele Menschen in der unmittelbaren Umgebung des Herrschers alte Rechnungen zu begleichen hatten und sich selbst einen Teil der Macht sichern wollten. Dazu mussten sie mögliche Rivalen isolieren und eliminieren. Und da man zweitens nie wusste, wann der Kaiser sterben würde, mussten alle, die ein substanzielles Interesse am politischen System hatten, stets einen Plan B parat haben, um ihre eigene Position zu konsolidieren, damit sie beim Ableben des Kaisers also nicht mit leeren Händen dastünden und sich, im Gegenteil, ihre Position unter dem künftigen Regime möglichst weiter verbessern würde.
Dieses dynamische Wechselspiel zwischen Tod des Kaisers, Thronfolge und politischem Ehrgeiz brachte es mit sich, dass die politischen Akteure der römischen Spätantike ständig hinter den Kulissen ihre eigenen Pläne schmieden mussten, um für alle möglichen Zukunftsszenarien gerüstet zu sein. Und von der legitimen Sorge um die Zukunft war es da oft nur ein kleiner Schritt hin zu Verrat und Verschwörung. Anfang der 370er-Jahre gerieten mehrere ranghohe Beamte in Antiochia in ernsthafte Schwierigkeiten, als sie einen Dreifuß für eine Séance missbrauchten, bei der sie den Namen des nächsten Kaisers herausfinden wollten. Der damalige Kaiser Valens war außer sich, zumal die Inschrift auf dem Dreifuß den Namen eines der Teilnehmer der Séance nannte und dieser sich deswegen veranlasst sah, politisch aktiv zu werden. In der Inschrift stand gerade einmal »THEOD« – einer der Anwesenden war ein leitender Bürokrat namens Theodoros. Doch er hatte das Nachsehen: Der nächste Kaiser hieß Theodosius 32– was einmal mehr die Bedeutung der praktischen Implikationen der vorherrschenden Ideologien im Römischen Reich unterstreicht.
Denn auch wenn die Ideologien, die die Basis des öffentlichen Lebens bildeten, einen kompromisslosen politischen Konsens zugunsten des gegenwärtigen, von Gott zum Herrscher über die beste aller möglichen Welten eingesetzten Kaisers forderten, so implizierten sie dennoch, dass ein Kaiser auch ohne Unterstützung Gottes an die Macht kommen konnte – oder doch zumindest, dass Gott seine Unterstützung erst dem einen und dann auf einmal einem anderen Thronanwärter zukommen ließ. Ein schönes Beispiel dafür sind zwei Reden, die der Redner Themistios im Jahr 364 für zwei verschiedene kaiserliche Regime hielt: am 1. Januar für Jovian und im Herbst desselben Jahres für Valentinian und Valens. In der ersten Rede, in der er Jovians Konsulat preist, nennt Themistios, wie es sich gehört, jene Details des Aufstiegs des Kaisers zur Macht, die zeigten, dass er von Gott auserwählt worden war. Leider starb Jovian wenige Monate später unter mysteriösen Umständen – offenbar war er doch nicht Gottes erste Wahl gewesen, denn sonst hätte dieser ja nicht zugelassen, dass er so früh verstarb. Genau diesen Umstand greift Themistios dann in seiner zweiten Rede zumindest implizit auf, wenn er betont, was bei der Machtübernahme durch das neue Regime anders gemacht wurde, um sicherzustellen, dass die fehlbaren Menschen dieses Mal bei der Wahl der neuen Kaiser den Willen Gottes richtig verstanden hatten. 33
In diesem Fall räumte Themistios im Nachhinein die Illegitimität von Jovians Machtübernahme ein, sodass seine Rede niemandem mehr Anlass geben konnte, irgendwelche Intrigen zu spinnen. Aber dieser Umstand unterstreicht noch einmal, dass es selbst bei einem Posten, der in einem solchen Maße dem öffentlichen Konsens unterlag wie der des Kaisers, niemandem verwehrt war, sich nach anderen Optionen umzuschauen. War der derzeitige Herrscher wirklich Gottes Favorit? Die Unwägbarkeiten der Thronfolge verlangten ohnehin ein hohes Maß an politischem Kalkül, und die schiere Zahl erfolgreicher Usurpationen oder Quasi-Usurpationen – sogar die Inthronisierung Konstantins durch die Anhänger seines Vaters in York gegen den erklärten Willen der meisten Tetrarchen und später diejenige Valentinians II. erfolgten widerrechtlich – beweist, dass Intrigen und Verschwörungen im spätrömischen politischen Leben eine Konstante darstellten, übrigens auch abseits der Thronfolge. Kein Kaiser konnte es sich leisten, diese Vorgänge zu ignorieren, am allerwenigsten jemand wie Justinian, der, wie wir noch genauer erfahren werden, nicht aus einer alteingesessenen Dynastie stammte. Es gab jedoch Momente, in denen ein Regime besonders anfällig war, weil die Intensität der Verschwörungen wuchs und dementsprechend die Wahrscheinlichkeit, dass eine Usurpation von Erfolg gekrönt war, zunahm. Gerade in den ersten Jahren eines Regimes gab es stets eine Vielzahl solcher Momente.
Eine neuere Studie über Karl den Großen und seine Nachfolger hat überzeugend dargelegt, dass ein karolingischer Herrscher zwischen fünf und zehn Jahren brauchte, bis er die Zügel der Macht fest in Händen hatte; so lange dauerte es, solide Beziehungen zu einer Reihe von zuverlässigen Untergebenen aufzubauen, die de facto – im Auftrag des Herrschers – die einzelnen Regionen des Königreichs regierten. Die Verwaltungsbürokratie des Römischen Reiches funktionierte zwar besser als die des Reiches Karls des Großen, aber nicht viel besser, und es war viel größer als das Karolingerreich. In der Praxis war der Erfolg der römischen Regime ebenfalls von zahlreichen lokalen Machthabern abhängig: Sie leiteten die lokalen Gemeinden auf eine Art und Weise, die dem zentralen Regime zum Vorteil gereichte; dies betraf insbesondere das Erheben von Steuern und die Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Ordnung. Folglich wurden die frühen Stadien der Herrschaft von jedem römischen Kaiser dazu genutzt, diese Beziehungen aufzubauen: Man identifizierte potenziell loyale Akteure und förderte sie durch Bezeigungen kaiserlicher Gunst. Aber das brauchte seine Zeit. 34
Meiner Ansicht nach sind die Parallelen zwischen den Karolingern und den kaiserlichen Regimen des Römischen Reiches recht aufschlussreich. Der zeitliche Rahmen, innerhalb dessen ein neues Herrscherhaus für Störungen anfällig war, wird noch größer gewesen sein, wenn ein substanzieller Bruch mit dem vorherigen Regime vorlag, zum Beispiel bei einem erzwungenen Dynastiewechsel oder einer direkten Usurpation. Valentinians Bruder Valens, der auf das kurze und wenig erfolgreiche Intermezzo von Julian und Jovian folgte, scheint es während seiner vierzehnjährigen Regierungszeit nie ganz gelungen zu sein, sich die Loyalität der wichtigeren politischen Akteure des Ostreichs zu sichern. Ein weiterer aufschlussreicher Aspekt des politischen Lebens in der römischen Spätantike war, dass eine Usurpation oft eine weitere nach sich zog – von der Auflösung der Tetrarchie Anfang der 300er-Jahre über den Niedergang von Konstantins Sohn Constans im Westen Ende der 340er-Jahre bis in die 470er-Jahre, als in Konstantinopel der isaurische Außenseiter Zenon herrschte. 35
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