1 ...7 8 9 11 12 13 ...28 Auch externe Ereignisse konnten ein Regime destabilisieren. Anfang der 380er-Jahre verlegte Kaiser Gratian seinen Hof von Trier nahe der Rheingrenze nach Norditalien und gliederte eine große Anzahl von Alanen in seine Feldarmee ein. Diese Alanen waren im Zuge des Chaos, das die Hunnen zu dieser Zeit in Ost- und Mitteleuropa erzeugten (und das auch Gratian veranlasst hatte, seine Operationsbasis nach Mailand zu verlegen, das näher am neuen Epizentrum der Bedrohung lag), aus ihrem alten Stammesgebiet am Schwarzen Meer vertrieben worden. Doch so sinnvoll und nachvollziehbar ihre Eingliederung für sich genommen auch war, sie brachte die bestehenden Machtverhältnisse innerhalb der westlichen Feldarmeen – insbesondere derer, die in Gallien stationiert waren – so sehr durcheinander, dass der Feldherr Maximus den allgemeinen Unmut dazu nutzte, sich als Usurpator (vorübergehend) zum Kaiser aufzuschwingen.
Nicht nur, wenn ein ranghoher Augustus von der Bildfläche verschwand, konnte das die höfische Politik ins Chaos stürzen. Ende der 410er-Jahre heiratete Constantius III. nach einer äußerst erfolgreichen Karriere beim Militär Galla Placidia, die Schwester des kinderlosen Kaisers Honorius, und zeugte mit ihr den voraussichtlichen Thronfolger Valentinian III.; Constantius wurde neben Honorius ganz ordnungsgemäß zum Augustus gekrönt. Doch als er im Jahr 421 plötzlich starb, kam das Gleichgewicht der weströmischen Politik sofort ins Wanken, und das obwohl Honorius immer noch auf dem Thron saß. Wir kennen nicht alle Details, aber offenbar gelang es den widerstreitenden Parteien nun, da Constantius fort war, Bruder und Schwester, die zuvor für einen liebevollen Umgang miteinander bekannt gewesen waren, gegeneinander aufzuwiegeln. Am Ende verkrachten sie sich so sehr, dass Galla mit ihrem Sohn nach Konstantinopel fliehen musste; ihre Flucht und Honorius’ plötzlicher Tod machten den Weg dann frei für den Usurpator Johannes. 36
Doch von all den Unwägbarkeiten stellte eine militärische Niederlage noch immer die größte Gefahr für die politische Stabilität dar – aus naheliegenden Gründen. Valens’ gesamtes Regime löste sich mit einem Schlag auf, als der Augustus am 9. August 378 zusammen mit vielen seiner führenden Beamten bei der Schlacht von Adrianopel ums Leben kam. Doch auch einfache Rückschläge, die nicht gleich tödlich waren, konnten schlimme Folgen haben: Als die Vandalenexpedition Kaiser Majorians im Jahr 461 scheiterte, wandten sich so viele Unterstützer von ihm ab, dass sich der patrizische Feldherr Ricimer berufen fühlte, ihn abzusetzen und hinzurichten. Als es Stilicho nicht gelang, den Rheinübergang von 406 und die Usurpation Konstantins III. zu verhindern (die auf Stilichos offenkundige Unfähigkeit zurückzuführen war, den römischen Nordwesten vor Übergriffen zu schützen), verlor er drastisch an Einfluss auf Kaiser Honorius, den er mehr als ein Jahrzehnt lang aufgebaut hatte, seit er im Jahr 395 an die Macht gekommen war. Im August 408 wurde Stilicho gestürzt und hingerichtet. Doch als seine unmittelbaren Nachfolger nicht in der Lage waren, die politische Stabilität wiederherzustellen, wandten sich nach und nach die Unterstützer von ihnen ab. Es folgte eine ganze Reihe kurzlebiger Regime, von deren Protagonisten einige grausam ermordet wurden. 37
Jede militärische Niederlage und sogar der bloße Anschein militärischen Unvermögens waren ein politisches Todesurteil, nicht nur ganz real, wenn ein Kaiser auf dem Schlachtfeld den Tod fand, sondern auch weil dies die Verschwörer und Intriganten auf den Plan rief. Schließlich gab es keinen größeren Beweis göttlicher Gunst – und damit kaiserlicher Legitimität – als militärischen Erfolg, und da dieser Erfolg scheinbar so leicht nachzuvollziehen war, galt auch das Gegenteil. Nichts zeigte deutlicher, dass dem aktuellen Regime der göttliche Beistand und damit die Existenzberechtigung fehlte, als ein militärisches Versagen, das die politische Stabilität beeinträchtigte. Insofern ist es kaum verwunderlich, dass es viele Kaiser, wenn es um den Ausgang einer Schlacht ging, mit der Wahrheit nicht allzu genau nahmen.
Ein Remis in einen Sieg oder einen kleinen in einen großen Sieg umzudeuten – das waren die offensichtlicheren Strategien, wie Themistios sie in den Reden, die er Mitte des 4. Jahrhunderts für diverse Regime verfasste, bis zum Gehtnichtmehr wiederholte. Gleich in seiner ersten Rede behauptete er, der Vormarsch von Constantius II. auf Singara im Jahr 344 habe den persischen Großkönig Schapur zu Tode erschreckt, und verschleierte die Tatsache, dass es überhaupt keine Schlacht gegeben hatte. Das Gipfeltreffen von Valens und Athanarich im Jahr 369 wurde mit den Mitteln der Rhetorik als gewaltiger Triumph dargestellt (inklusive einem Flussufer voll demütig murmelnder Goten), obwohl (beziehungsweise gerade weil) das neue diplomatische Abkommen für eine viel größere Gleichberechtigung zwischen den Parteien sorgte als der Vorgänger, und das nach drei für das römische Militär äußerst frustrierenden Jahren. Auch den Umstand, dass es Theodosius im Anschluss an Adrianopel nicht direkt gelang, einen Sieg über die Goten zu erringen, beschönigte man mit einer ganzen Reihe von Behauptungen; so hieß es, der neu ausgehandelte Vertrag sei eben nur eine andere Art von Sieg und im Grunde genommen ein viel größerer Triumph. 38
Diese Inszenierungsstrategien waren dermaßen verbreitet, dass es genauso üblich wurde, seine Rivalen der Übertreibung zu bezichtigen. Das Regime von Constantius II. setzte alles daran, die möglichen politischen Konsequenzen von Julians überwältigendem Sieg über die Alamannen in Straßburg im Jahr 357 zu begrenzen, indem es behauptete, jeder Trottel hätte einen Haufen »nackter Wilder« besiegen können. Wer ein Stratege sei, zeige sich allein im Kampf gegen die Perser im Osten. 39
Der politische Imperativ, militärische Siege zu erringen (oder zumindest so zu tun), war so gewichtig, dass sich die beschönigende Präsentation politischer Strategien irgendwann auch auf deren Entwicklung selbst auswirkte: Wenn sie sonst nichts tun konnten, ließen die Kaiser an ungewöhnlichen Standorten entlang der Grenzen Festungen errichten. Ob man zur Zeit von Valentinian und Valens wirklich noch mehr solcher Anlagen brauchte, dürfen wir getrost bezweifeln, doch sie waren ein gutes Propagandamittel. Mitunter zeitigte diese Praxis allerdings ganz unerwartete Ergebnisse. Einmal ließ Valentinian in einem Gebiet, in dem die Römer, so war vorher vereinbart worden, nichts bauen durften, Befestigungsanlagen errichten; das veranlasste die empörten ortsansässigen Alamannen dazu, einen blutigen Aufstand vom Zaun zu brechen. Schon zu Beginn seiner Regentschaft hatte sich Valentinian seinen Steuerzahlern als Barbarenschreck präsentieren wollen. Nun senkte er einseitig den Wert der alljährlichen Geschenke für die Könige der Alamannen. Diese nutzten die Geschenke jedoch ihrerseits dazu, daheim ihr Prestige zu steigern und die Netzwerke ihrer Unterstützer zu unterhalten. Das Resultat waren weitere wütende Alamannenproteste und noch mehr Schwierigkeiten an der Rheingrenze.
Manche meinen, das Römische Reich habe jeden einzelnen aufgezeichneten Konflikt mit den Alamannen in der späten Kaiserzeit selbst initiiert – die Kaiser hätten nun einmal ständig unter dem Druck gestanden, militärische Siege vorzuweisen. Meiner Ansicht nach geht diese Argumentation zu weit, denn sie spricht den Menschen jenseits der Grenze letztlich das Handlungsbewusstsein ab. Dennoch: Der innenpolitische Zwang, klare Siege zu erringen, wird sich doch hier und da auf die kaiserliche Außenpolitik ausgewirkt haben. 40Und eben jener Zwang veranlasste manche Kaiser sogar dazu, ihre Niederlagen zu vertuschen.
Im Spätsommer 363 wurde Kaiser Julian beim Versuch, seine Armee aus dem Territorium der Perser herauszuholen, in einem Scharmützel getötet. Wie der Bericht des Ammianus Marcellinus deutlich macht, war Julians Streitmacht, obgleich in taktischer Hinsicht ungeschlagen, in eine strategische Falle gelockt worden. Sein Nachfolger Jovian sah sich gezwungen, einen geradezu demütigenden Friedensvertrag zu schließen: Die Perser erhielten die römische Regionalhauptstadt Nisibis sowie eine Reihe von Gebieten östlich des Tigris. Die naheliegende Option in puncto Propaganda wäre gewesen, diese Niederlage Julians unvorsichtigem Verhalten anzulasten – so wie es auch heute noch die meisten Regierungen tun, wenn sie für jedes aktuelle Problem ihre Vorgänger verantwortlich machen. Einer der Gründe, warum ich das britische Finanz- und Wirtschaftsministerium verließ und mich der Wissenschaft zuwandte, war die alberne offizielle Vorgabe, auf Fragen der Presse mit dem Satz zu antworten: »Ja, aber unter der letzten Regierung war die Situation noch viel schlimmer.« Doch sowohl die Münzen, die Jovian prägen ließ, als auch eine Rede, die er bei Themistios in Auftrag gab, machen deutlich, dass sich das neue Regime für eine viel unbequemere Option entschieden hatte: Man behauptete, die erniedrigenden Klauseln des Friedensvertrags seien für die Römer in Wirklichkeit ein Sieg. Niemand glaubte das, insbesondere als das Römische Reich den Persern dann wirklich Nisibis und viele weitere Territorien im Osten überlassen musste, doch das war auch gar nicht der Punkt: Der ideologische und politische Imperativ, siegreich zu sein, war so gewaltig, dass kein römischer Kaiser eine militärische Niederlage eingestehen durfte – nicht einmal dann, wenn er noch ganz am Anfang seiner Herrschaft stand und sie noch ganz plausibel seinem Vorgänger hätte anlasten können. Vor allem aber durfte man keine so gewaltige Niederlage gegen den Erzfeind der Römer eingestehen. 41
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