Hatte Heinrich VIII. anfangs den Schein noch aufrecht erhalten, ging er bald dazu über, Anna Boleyn bei Hofe als seine Ehefrau zu behandeln, obwohl er immer noch mit Katharina von Aragón verheiratet war. Er küsste Anna in aller Öffentlichkeit und beschenkte sie reich. Während er ihren Vater zum Grafen von Wiltshire erhob, machte er sie selbst zum Marquis von Pembroke mit dem Recht diesen Titel zu vererben. Außerdem räumte er ihr den Vortritt vor seinen Schwestern ein. Königin Katharina, die auf der Rechtmäßigkeit ihrer Ehe mit Heinrich beharrte, wurde vom Hof verbannt und lebte seit Juli 1531 mit ihrem Hofstaat in ländlicher Abgeschiedenheit. Als sich Heinrich VIII. mit dem französischen König Franz I. im Oktober 1532 in Calais traf, trat Anna Boleyn an seiner Seite als erste Dame seines Hofes auf. Für diesen Anlass hatte ihr die verbannte Königin auf Befehl Heinrichs die königlichen Juwelen übergeben müssen, die Anna Boleyn bei offiziellen Empfängen und auf Festen trug. Wahrscheinlich gab sie kurz nach ihrer Rückkehr nach England Heinrichs Werben endlich nach. Als sie daher im Januar 1533 dem König mitteilte, dass sie schwanger sei, musste der König nun rasch handeln, um eine legitime Geburt seines Kindes sicherzustellen. Am 25. Januar 1533 heiratete er Anna Boleyn heimlich. Da Papst Clemens VII. aber nicht bereit war, Heinrichs Ehe mit der spanischen Prinzessin zu annullieren, wandte sich der König von der römisch-katholischen Kirche ab und gründete die Anglikanische Landeskirche, um so die Heirat mit Anna Boleyn zu ermöglichen. Im März 1533 erließ das englische Parlament ein Gesetz, das es verbot, in Zukunft in kirchenrechtlichen Fragen an den Papst zu appellieren und unterstellte gleichzeitig die geistliche Gerichtsbarkeit der königlichen. Nachdem am 23. Mai Heinrichs erste Ehe mit Katharina von Aragón vom Erzbischof von Canterbury für nichtig erklärt und die Heirat mit Anna Boleyn rückwirkend bestätigt worden war, fand am 1. Juni 1533 Anna Boleyns feierliche Krönung zur englischen Königin statt. Die Londoner brachten der neuen, sichtbar schwangeren Königin jedoch nur wenig Begeisterung entgegen, da Katharina von Aragón in der Bevölkerung beliebt war. Für Anna Boleyn sollte die Krönung trotzdem den glanzvollen Höhepunkt ihres Lebens bilden. Mit der Scheidung Heinrichs VIII. von seiner ersten Ehefrau und seiner zweiten Heirat begann die englische Reformation. Der Vatikan reagierte auf die Ereignisse mit dem Kirchenbann. Daraufhin erklärte sich der König Ende 1534 zum Oberhaupt der englischen Kirche, das alleine über religiöse Fragen zu entscheiden befugt war. Auf die Suprematsakte folgte die Sukzessionsakte, die Heinrichs Tochter Maria aus erster Ehe für illegitim erklärte und von der Thronfolge ausschloss und im Gegenzug die Kinder aus der zweiten Ehe als rechtmäßige Erben postulierte. Hinzu kam noch die Hochverratsakte, die jede Äußerung, die die Stellung des Königs als Oberhaupt der Kirche und das Thronfolgegesetz in Zweifel zog, mit der Todesstrafe bzw. lebenslänglicher Gefängnisstrafe bedrohte. England spaltete sich damit endgültig von der römisch-katholischen Kirche ab. Anna Boleyn, die zum Luthertum hinneigte, begrüßte diese Entwicklung.
Ein erster Schatten fiel bereits auf die Ehe Anna Boleyns mit Heinrich VIII., als sie am 7. September 1533 in Greenwich nicht den heiß ersehnten Sohn zur Welt brachte, sondern von einer Tochter, der späteren Königin Elisabeth I., entbunden wurde. Der enttäuschte König, der für den erwarteten Sohn die Namen Heinrich oder Eduard vorgesehen hatte, blieb demonstrativ der Taufe fern. Ein für die Tauffeierlichkeiten geplantes Turnier wurde von ihm abgesagt. Trotzdem musste Heinrichs Tochter Maria den Titel einer Fürstin von Wales an ihre kleine Halbschwester Elisabeth abgeben, da diese nun als Thronerbin galt. Später unternommene Annäherungsversuche von Anna Boleyn an die zutiefst verbitterte ältere Tochter ihres Ehemanns schmetterte diese mit dem Hinweis ab, dass sie »keine andere Königin« 5außer ihr Mutter kenne. Durch ihr oft herrisches Wesen und ihren zuweilen sarkastischen Humor gewann sich die neue Königin nicht eben viele Freunde bei Hof. Für die brutale Unterdrückung der klerikalen Opposition durch Heinrich VIII. wurde Anna Boleyn von der Bevölkerung verantwortlich gemacht. Im Gegensatz zu ihrer Vorgängerin Katharina blieb sie unpopulär.
Trotz der Enttäuschung über die Geburt von Elisabeth führte Anna Boleyn zunächst noch eine harmonische Ehe mit dem König. Als im Juli 1534 eine erneute Schwangerschaft der Königin mit einer Totgeburt endete, begann jedoch Heinrichs Liebe zu ihr langsam abzukühlen, da sie seine Hoffnungen wieder enttäuscht hatte. Offenbar ließ auch ihre sexuelle Anziehungskraft auf ihren Mann nach. Ihre Launenhaftigkeit erregte zunehmend sein Missfallen. Hatte er ihre scharfe Zunge und ihren Witz früher als aufregend empfunden, schätzte es der König jetzt immer weniger, wenn er von seiner Ehefrau in der Öffentlichkeit in Dispute verwickelt wurde. Im Unterschied zu Heinrichs erster Gattin tolerierte Anna Boleyn auch nicht seine Seitensprünge, sondern überschüttete ihn stattdessen mit Vorwürfen. Nachdem Katharina von Aragón am 7. Januar 1536 an Krebs gestorben war, verschlechterte sich die Lage für Königin Anna dramatisch. Solange die erste Ehefrau noch am Leben war, konnte sich der König nicht gut innerhalb nur weniger Jahre wieder von der zweiten Gattin trennen. Heinrich VIII. befürchtete wohl auch, dass die Ehe mit Katharina automatisch wieder gültig würde, wenn er seine zweite Ehe für ungültig erklären würde. Als Anna Boleyn am Tag von Katharinas Beisetzung, am 29. Januar 1536, eine zweite Fehlgeburt erlitt, war ihr Schicksal so gut wie besiegelt. Dass sie dies ahnte, beweist ihr Nervenzusammenbruch nach dieser zweiten Totgeburt.
Wie einst Königin Katharina zog sich auch Anna Boleyn Heinrichs Ungnade durch ihr Unvermögen zu, ihm die gewünschten männlichen Thronerben zu schenken. Heinrich VIII., der sich Ende 1535 in Annas Hofdame Jane Seymour verliebt hatte, war im Frühjahr 1536 nicht länger an einer Fortsetzung seiner zweiten Ehe interessiert. Eine erneute Eheannullierung kam jedoch nicht in Frage, da dies Heinrichs Ruf gefährdet hätte. Um sich seiner ungeliebten Ehefrau aber endgültig entledigen zu können, musste diese deshalb mittels eines Todesurteils »legal« aus dem Weg geräumt werden. Anna Boleyns Gegnern am Hof war diese Entwicklung nicht entgangen. Sie bestärkten Heinrich daher in seinen Absichten. Die genauen Gründe für diese vom Hof ausgehende Intrige gegen Anna Boleyn lassen sich nicht mehr feststellen. Bei dem Komplott spielten politische, religiöse und private Gründe eine Rolle. Vermutlich haben die ehrgeizigen Brüder von Jane Seymour zusammen mit dem Lordkanzler Thomas Cromwell die Aktion gegen die Königin geplant und gezielt Gerüchte und Verdächtigungen gegen Anna Boleyn gestreut. Zu dieser mächtigen Clique gehörten auch Oberstallmeister Nicholas Carewe, der Marquis von Exeter sowie Lord Henry Montague. Für Cromwell, der sozusagen die Führung des Komplotts übernahm, stand Königin Anna vor allem der außenpolitischen Wiederannäherung an Kaiser Karl V. im Weg.
König Heinrich VIII. fing an, seine Gemahlin zu beschuldigen, ihn durch Hexenkünste in die Ehe mit ihr getrieben zu haben. Der König steigerte sich regelrecht, wozu er offensichtlich gerne neigte, in pathologisches Selbstmitleid hinein. Seit April 1536 ließ Heinrich daher Informationen gegen Anna Boleyn sammeln, die eine Hochverratsklage unterstützen würden. Er installierte dafür eine Untersuchungskommission unter dem Vorsitz von Annas Onkel Thomas Howard, dem Herzog von Norfolk. Am 1. Mai 1536 traten Anna Boleyn und Heinrich VIII. bei dem Besuch eines Turniers in Greenwich zum letzten Mal gemeinsam in der Öffentlichkeit auf. Der König verließ die Veranstaltung allerdings vorzeitig. Anna Boleyn sollte ihn nie wiedersehen. Einen Tag später wurde sie in Greenwich verhaftet, mit den gegen sie erhobenen Anklagepunkten konfrontiert und danach in den Tower nach London gebracht. Die völlig verängstigte Königin verbrachte die nächsten Tage in einem Zustand nahe dem Wahnsinn, der zwischen verschiedenen hysterischen Gefühlsaufwallungen schwankte. Am 6. Mai schrieb sie einen flehentlichen Brief an Heinrich VIII., wohlwissend dass ihr weiteres Schicksal völlig von der Gnade oder Ungnade ihres Ehemannes abhing: »Kein Fürst hat je eine treuere Gattin in aller Pflicht und aller wahrhaften Zuneigung gehabt, als Ihr in Anne Boleyn gefunden habt. (...) Lasst mich verhören, guter König, aber gebt mir ein gerechtes Gerichtsverfahren, und lasst nicht meine geschworenen Feinde als meine Ankläger und Richter über mich zu Gericht sitzen. Ja, gebt mir ein öffentliches Gerichtsverfahren, denn meine Wahrheit wird keine öffentliche Schande zu fürchten haben. Dann werdet Ihr entweder meine Unschuld gereinigt, Euren Argwohn und Euer Gewissen zufrieden gestellt, die Bosheit und Verleumdung der Welt zum Schweigen gebracht oder meine Schuld öffentlich erklärt sehen, sodass, was auch immer Gott und Ihr über mich beschließen mögen, Euer Gnaden von einer öffentlichen Kritik befreit sein werden, und wenn meine Schuld dann gesetzlich erwiesen ist, wird es Euer Gnaden sowohl vor Gott wie vor den Menschen freistehen, nicht allein gesetzliche Strafe an mir als einer ungetreuen Gattin zu vollziehen, sondern auch Eurer Neigung, die bereits feststeht, zu folgen, um derentwillen ich da bin, wo ich jetzt bin (...) Meine letzte und einzige Bitte sei, dass ich allein das Gewicht von Euer Gnaden Missfallen zu tragen habe und dass es nicht die unschuldigen Seelen der armen Edelleute treffen möge, die, wie ich höre, ebenfalls in strengem Gewahrsam sind um meinetwillen« 6.
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