»War nett, mit dir zu plaudern, Vivian«, rief er ihr verwirrt hinterher, aber da hatte sie bereits die Ladentür erreicht und schlüpfte ins sichere Innere.
Hätte besser ihm Glück wünschen sollen anstatt dem Motorrad … denn du hast das bitternötig …
Vivian sah auf die Uhr. Sie hoffte, dass er ihren Rat befolgen und verschwinden würde. Er war nett und süß, aber ein Fremder. Es war besser, ihn zu vergessen, denn die von außerhalb waren nicht von langer Dauer.
Sie versuchte, auf angenehmere Gedanken zu kommen. Zum Beispiel auf ihren bevorstehenden Feierabend. In einer Stunde würde sie endlich den Laden schließen, nach oben in ihr Zimmer gehen und sich dem Brief von Mary-Ann widmen. Sie würde die Shirts anprobieren, Musik hören und dieses verdammte Kaff für einen Moment vergessen. Einfach Mädchen sein. Das hörte sich nach einem ziemlich guten Plan an.
»Viviaaaaan!« Das Gekreische ihrer Mutter machte all ihre Pläne zunichte. Es dröhnte durch das Haus, das Vivian für einen Moment dachte, die Hölle hätte sich geöffnet.
»Ich hab zu arbeiten!«, blaffte sie nach oben, wusste aber, dass sich eine Martha McCall nicht damit zufriedengeben würde.
»Viviaaaaan!«
Vivian traten Tränen in die Augen. Ihr Magen krampfte, weil es ihr aufs Äußerste widerstrebte, nach oben zu steigen und das Zimmer ihrer Mutter zu betreten. Mit unsicheren Schritten ging sie zur Ladentür, um das Schild auf »Geschlossen« zu drehen. Auch wenn sie Angst hatte, sie musste es tun. Es gab keine andere Möglichkeit. Sie musste es tun.
Vivian ließ sich mit dem Hinaufsteigen Zeit, die sie nutzte, um sich auf den Anblick vorzubereiten, der sie dort oben erwartete. Ihre Mutter war ein Beispiel dafür, was es bedeutete, den Zorn des Predigers auf sich zu ziehen.
Alles dreht sich in Purgatory um diesen Mann. Selbst die Uhren richten sich nach ihm. Er ist der Geist …
Mein Gott, ich denke wie Dad …
Ich sollte besser überhaupt nichts denken …
Ich muss funktionieren …
Aber ich will’s nicht!
Ihre Mutter bewohnte das Zimmer am Ende des Flurs, das sie nur in besonderen Ausnahmefällen verließ. Vivian fragte sich, warum sie es ausgerechnet heute getan hatte.
Sie weiß von dem Bus und wollte es mit eigenen Augen sehen …
Sie weiß es, weil sie mit dem Prediger verbunden ist …
Je näher sie der Tür kam, desto intensiver roch sie den beißenden Gestank, der aus dem Raum dahinter strömte. Dad versorgte sie, wie er dazu in der Lage war. Er hielt sie sauber, wusch ihren Körper, salbte ihre wunde Haut. Anfangs aus Liebe, doch inzwischen tat er es nur, weil er sich ihr gegenüber verpflichtet fühlte.
Diesem Monster? Dass ich nicht lache! Wohl eher dem Prediger …
Sie achtete darauf, nicht auf die Schleimspur zu treten, die kurz vor der Tür begann, wo sie in dem Raum dahinter am Fenster die Bewegung gesehen hatte. Sie führte bis zu dem Zimmer ihrer Mutter. Ein Geschmier aus schlechtem Blut und eitrigem Ausfluss. Das Zeug lief ihr aus den Löchern, vor allem aber aus denen zwischen ihren Beinen. Vivian stöhnte auf. Es würde Stunden dauern, das klebrige Zeug von den Holzdielen des Flurs zu putzen. Sie verabschiedete sich von den Gedanken, sich ihrem Paket widmen zu können.
Niemand kann von mir verlangen, dass ich diese … Kreatur … liebe …
»Viviaaaaan!«
So nah an der Tür hörte es sich bedrohlich an. Dumpf und hohl klang ihre Stimme, durchsetzt von grenzenlosem Hass. Aber wenigstens schien sie sich nicht direkt hinter der Tür aufzuhalten.
Auf dem Bett …
Dad hatte mit Reißzwecken ein Bild von ihr an das Türblatt gepinnt, damit er nie vergaß, was für ein Mensch sie gewesen war. Vivian wischte mit ihrem Shirt den fetttriefenden Schleim von der Fotografie.
Mutters schmierige Spuren …
Das vergilbte Papier zeigte ihre Mutter vor einem strahlend blauen Himmel. Sie hatte den Mund zu einem Lächeln geöffnet, sodass man ihre gebleichten Zähne sehen konnte, trug eine leichte, helle Bluse und fasste sich mit einer Hand in ihr rotbraunes, gelocktes Haar, das ihr bis über die Schultern fiel.
Grüne Augen , dachte Vivian. Ein leuchtendes, freundliches Grün .
Es war das erste Mal, dass sie ihr strahlendes Lächeln bewusst wahrnahm. Die grünen Augen hatte sie von ihrer Mutter geerbt, auch wenn ihre viel dunkler und tiefgründiger waren.
Das ist das Einzige, was ich von ihr habe …
Vivian hatte ihre Mutter nie richtig kennengelernt, konnte sich nur vage daran erinnern, wie sie als Mensch gewesen war. Winzige Momente, von denen sie nicht wusste, ob sie ihrem Wunschdenken entsprachen oder Wirklichkeit waren.
Kindheitsträume …
»Viviaaaaan!«
Träume, die zerplatzten …
Sie atmete tief durch und legte ihre Hand auf den Drehknauf, um die Tür zu öffnen, tauchte mit den Fingern tief ins eitrige Geschmier. Aber sie zog die Hand nicht zurück. »Mum, ich komm jetzt rein.«
Vivian öffnete die Tür und fand sich in der Hölle wieder.
Eine denkwürdige Zusammenkunft im Nuttall & Man’s
James drehte das Whiskeyglas zwischen seinen Fingern, wie er es immer tat, wenn er nachdachte. Mantel und Hut hingen an der Garderobe des Hinterzimmers. Ebenso seine nasse Jacke. Er hatte sich die Zeit genommen, aus den Satteltaschen ein frisches, rotes Hemd zu holen und es anzuziehen. Die feuchte Weste hatte er wieder übergezogen, um anständig zu erscheinen. Vor ihm auf dem Tisch lag ein abgegriffener Stapel Pokerkarten. Ein Relikt seines früheren Lebens.
Jane saß ihm zugeknöpft in Hut und Jacke gegenüber. Er fand, dass sie im Gegensatz zu ihrem letzten Zusammentreffen blass geworden war und dünner. Ihr Blick sprach Bände. Sie war eine Frau, die Probleme gerne selbst und alleine erledigte. Es musste etwas Gravierendes sein, dass sie sich Hilfe von anderen holte.
Das Lärmen im Saloon und das Geklimpere am Klavier drangen verhalten zu ihnen vor. James schenkte sich nach und schob Jane die Flasche zu. »Erzählst du mir, was dich bedrückt?«
Jane schenkte sich ein und atmete geräuschvoll durch die Nase. Ihre Züge umspielten eine Härte, die er nur von Frauen kannte, die ihr Leben in den Territorien abseits von Gesetz und Ordnung selbst in die Hand nahmen. Er dachte an die Zeit zurück, in der sie zusammen geritten waren. An den Scoutjob bei der US Army und die Nacht, in der sie sich das erste Mal nähergekommen waren.
»Wir erwarten noch Gäste«, holte ihn Jane aus seinen Gedanken zurück und wich gleichzeitig der gestellten Frage aus.
»Wen?«
Anstelle einer Antwort nickte Jane zur Tür, denn von dort wurde es plötzlich laut. Jemand musste sie geöffnet haben. James fuhr herum, die Hand auf dem Griff seines Colts. Er hatte nicht aufgepasst. Und er saß mit dem Rücken zur Tür, ein weiterer Fehler. Ein Leichtsinn, der ihm zum Verhängnis werden konnte. Früher, in den wilden Zeiten, wäre ihm das nicht passiert.
Ein vollbärtiger, zerzauster Mann in Handschellen taumelte in das Hinterzimmer, gestoßen von einem hochgewachsenen, hageren Mann in dunkelgrauem Anzug und schmierigen Stiefeln. Der Zerzauste blieb in einiger Entfernung von dem Tisch, an dem Jane und James saßen, stehen und straffte seine Haltung. Sein Blick war hungrig und ausgezehrt, weswegen James an einen straffällig gewordenen Goldgräber dachte. Der harte, unbarmherzige Zug in den Augen des Mannes sprach eine andere Sprache. Der graue Wollstoff seiner Hose war zwar schmutzig, doch die braunen Stiefel wirkten gepflegt wie das karierte Hemd, das jetzt allerdings aus der Hose hing.
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