Buck lief zur Kirche, betrat sie durch den der Tankstelle zugewandten Seiteneingang und verschwand aus Vivians Sichtfeld. Sie rieb sich fröstelnd die Arme, obgleich es selbst nach Einbruch der Nacht drückend heiß war.
Jetzt steckt er dem Prediger, dass der Bus angekommen ist .
Sie lachte bitter.
Als wenn er das nicht längst wüsste!
Der Prediger hatte das alles von langer Hand geplant. Selbst der Tag der Ankunft des Busses stand bereits Wochen zuvor fest. Das wusste sie, weil sie ein Gespräch zwischen ihrem Dad und dem Prediger im Laden belauscht hatte. Er hatte davon gesprochen, dass die große Suche endlich ein Ende nehmen würde. Die Männer hatten gelacht und eine Menge Whiskey getrunken.
Vivian erschrak, als sie ein leises »Hey!« von der anderen Straßenseite hörte. Es war der Junge, der sein Motorrad zur Werkstatt schob. Sie blickte unsicher auf, verschränkte die Arme, nickte scheu. »’n Abend!«
Der Junge blieb stehen, wischte sich den Schweiß von der Stirn. Sein Shirt war verschwitzt und sah nach einer langen Reise auf den staubigen Straßen Iowas aus. Aber anders als die Hinterwäldler, die sie kannte, wirkte er deswegen nicht weniger anziehend. Verschmitzt lächelte er sie an. »Sorry, wenn ich dich erschreckt habe.« Er nickte in Richtung der von Neonlampen beleuchteten Tankstelle. »Ist das dort vorne Carlin’s Werkstatt?«
Vivian sah zu dem Bau mit den Zapfsäulen und wunderte sich über die Frage, denn das Schild darüber war selbst bei Dunkelheit nicht zu übersehen.
Könnte ihn einfach woanders hinschicken, weg aus der Stadt. Schließlich gehört er nicht zu denen aus dem Bus, hat nichts mit den Machenschaften hier zu tun .
Sie wusste nicht, warum, aber es kamen ihr die Worte des Predigers vom letzten Sonntag in den Sinn.
Gott hat uns den schwarzen Boden geschenkt, mit dem Blut derer von außerhalb fruchtbar gemacht, auf dass wir eine reiche Ernte einfahren, Jahr für Jahr .
Das waren seine Worte gewesen. Er hatte sie damit zutiefst verunsichert.
Das Blut derer von außerhalb …
Vivian sah den harten Mann mit dem wettergegerbten Gesicht direkt vor sich, wie er mit seinen kalten, grauen Augen auf sie herabstarrte.
Was der eine als Gott bezeichnet, ist des anderen Teufel …
Sie hatte nicht verstanden, was er damit meinte. Nur die Alten hatten wissend genickt und gemurmelt, dass die Auserwählten in die Stadt kommen würden und die Suche bald ein Ende hätte.
Immer wieder diese Suche …
Das Quäntchen Wahrheit …
Ich sollte Ruth in ihrer Hütte besuchen. Sie wird es wissen … Sie weiß einfach alles …
Vivian wusste in diesem Moment nur, dass es mit dem Bus zu tun hatte. Dass es die eine große Sache war, um die sich in Purgatory alles drehte.
Vivian räusperte sich verlegen. »Sorry. Das sind die Carlins, ja. Conor sollte in der Werkstatt sein, ist eben heimgekommen«, beantwortete sie seine Frage.
Der Junge nickte. »Uff, prima. Hoffe, die können den Fehler finden. Das Bike bei der Hitze zu schieben, macht echt keinen Spaß.« Er blickte die Straße zurück zum Bus. »Die haben mich auf der Interstate aufgelesen. Hatte bereits befürchtet, dass ich im Freien übernachten muss – und glaub mir, ich bin verdammt froh, dass es nicht so ist.«
»Ist echt nicht ratsam, in den Maisfeldern zu pennen«, gab Vivian zurück, sah mit einem schnellen Blick zur Ladentür. Drinnen war alles ruhig. Ihr Vater war im Kühlhaus beschäftigt und ihre Mutter tat das, was sie eben so tat. »Da gibt’s ’ne Menge schräger Geschichten drüber …«
Sie beschloss, sich dem Jungen vorzustellen. So konnte sie mehr über den Bus und der offensichtlich wertvollen Fracht herausfinden. Sie nahm ihren ganzen Mut zusammen und überquerte die Straße, bis sie vor dem Motorrad stand. Mit einem gezwungenen Lächeln streckte sie ihm die Hand entgegen. »Ich heiße übrigens Vivian.«
Der Junge wischte sich die Hand an seiner Jeans ab und reichte sie ihr. »Jason … Jason Bullock.« Sein Händedruck war angenehm fest. Nicht gierig und grob wie Conors oder schwammig wie der seines Bruders Jet, der sie an weiche Butter denken ließ. Sie dachte an Buck und dass der niemandem die Hand gab.
Komischer Kauz. Wie unterschiedlich Geschwister doch sein können …
Oder auch nicht …
»Und du wohnst die Nacht über im White House?« Kaum ausgesprochen, kam Vivian ihre Frage unangebracht vor. Sie stöhnte entschuldigend auf. »Sorry, das war jetzt aufdringlich.«
Jason sah erneut zurück und zuckte mit den Schultern. »Ist ja kein Geheimnis. Mrs. Iversson war so nett, mir ein Zimmer anzubieten. Aber was ist mit dir? Arbeitest du in dem Laden?«
Vivian war nicht besonders gut in dieser Art von Gesprächen. Die Konversation in Purgatory beschränkte sich normalerweise auf das Wetter, den Mais, die Schweinezucht und Fleischproduktion. Auch dabei fasste man sich kurz. Mit Fremden redete sie selten. Über was auch? »Gehört meinen Eltern … und ja, da steh ich hinter der Theke.«
»Habt ihr Bier?«, wollte Jason mit einem verschmitzten Lächeln wissen.
Vivian nickte. »Klar.«
Jason deutete zum Hawkeye, dass zwischen dem Laden und der Werkstatt auf der linken Straßenseite lag. Aus einem bestimmten Grund schien er sich nicht von ihr lösen zu können. »Und dort bekomme ich auch was zu essen?«
»Besser, du holst dir ’n Sandwich bei uns.« Sie rang sich zu einem Lächeln durch. »Dir würd’s als Fremder im Hawkeye nicht gefallen … sag ich jetzt mal so.«
Außer du willst im Hinterzimmer enden …
Jason sah sie einen Augenblick nachdenklich an, nickte schließlich. »Okay, wenn du das sagst, schau ich später bei dir vorbei.«
»Was ist das überhaupt für ein Bus?«, kam Vivian auf den eigentlichen Grund des Gesprächs zurück. »Schulausflug?«
»Hm, soweit ich weiß, sind die von ’nem Waisenhaus und auf dem Weg nach South Dakota … Sommercamp oder so was in der Art …«
»South Dakota liegt aber in der anderen Richtung«, sinnierte Vivian und hätte sich im nächsten Moment am liebsten auf die Zunge gebissen.
Jason hob desinteressiert die breiten Schultern. »Glaub, die sind über Sioux City gefahren, da ist es nur ein kleiner Abstecher hierher. Wen juckt’s?«
Vivian war über Jasons Verhalten verwundert. Der sogenannte Abstecher verlängerte die Fahrt um viele Stunden. Sie fing an, über Dinge nachzudenken, über die sie besser nicht nachdenken sollte. Und dennoch …
Ich weiß, dass es kein Zufall ist, dass die hier gelandet sind .
»Und wo, sagtest du, wolltest du hin, Jason?«
»Ich sagte noch gar nichts«, antwortete der Motorradfahrer und lachte. »Wer weiß, womöglich genau hierher …«
Vivian sah scheu zum Laden und zuckte zusammen, weil sich im Obergeschoss ein Vorhang bewegte.
Verdammt, Mum …
Vivian stellte sich vor, wie sie sich zum Fenster geschleppt hatte. Laufen konnte sie längst nicht mehr. Jedenfalls nicht wie ein normaler Mensch. Aber was war schon normal in Purgatory? Nicht auszudenken, wenn sie das Gespräch beobachtet hatte. »Ich geh besser rein … werd nicht fürs Schwätzen auf der Straße bezahlt.« Sie drehte sich um, lief los, doch Jason ergriff ihren Arm.
»Weil im Moment viel los ist …« Überrascht von seinem Übergriff, zog er die Hand zurück. »Sorry, ich wollte das nicht …« Er lächelte sie verlegen an. »Es ist nur, wie soll ich’s sagen … Würd mir wünschen, später mit dir im Laden weiterzureden.«
Vivians Hand berührte kurz die seine. »Mach, das du aus der Stadt verschwindest«, stieß sie leise, aber nachdrücklich hervor. »Halt dich von den Einheimischen fern, von denen im Bus … und … vor allem … von mir!« Vivian ließ ihn stehen, überquerte die Straße und ging zur Ladentür. Dort sah sie über die Schulter zurück. »Viel Glück mit dem Motorrad, Jason!«
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