Enttäuscht ließ ich das Schreiben sinken und zog meinen Drehstuhl heran. War ich jetzt schlauer? Was sollte ich mir unter diesen Urkräften vorstellen? Die gutgemeinten Erläuterungen trugen eher zu meiner noch größeren Verwirrung bei, keiner der Ratschläge traf auf mich zu. Körperliche Grenzen ? – Davon konnte bei mir wirklich keine Rede sein! Ich ritt ja nur noch zwei bis dreimal die Woche und die Stallarbeit warf mich auch nicht um. Und warum sollte sich mein Freund von mir trennen? War da etwa Gerson gemeint?
Ich hielt einen Augenblick inne und betrachtete die Kinoreklame auf der anderen Seite der Brückenstraße. In der Spätvorstellung zeigten sie wieder Stranger than Paradies und Down by Law von Jim Jarmusch, tolle Filme, die ich mir vor ein paar Jahren mit Gerson zusammen angeschaut hatte. Wie lange war das schon her! Seit wir Fango übernommen hatten, waren wir kein einziges Mal mehr zusammen im Kino gewesen, hatten nichts mehr Schönes gekocht und kaum Zeit für vertraute Gespräche gehabt, geschweige denn, dass wir mit unseren Freunden zum Schwofen in die Nachtschicht gegangen wären.
Aber hatte das alles wirklich nur mit Fango zu tun? Nein, ich musste es mir eingestehen: Kinofilme, Essen kochen, zusammen auf dem Sofa liegen und Musik hören, all das hatte aufgehört, als meine Geschichte mit Luis angefangen hatte. Und als der vermeintliche Pferdemann und Elitereiter wieder aus meinem Leben verschwunden war, hatte er Fango unversorgt auf dem Leierhof zurückgelassen. Tom hatte Fango schon im Internet zum Verkauf anbieten wollen, als Gerson aktiv geworden war: „Ich zahle die Hälfte der Boxenmiete, wenn du für den Beritt sorgst, Vera“.
Er war unglaublich großzügig gewesen und möglicherweise war mir meine Liebelei mit Luis deshalb so peinlich. Manchmal argwöhnte ich, dass Gerson und ich Betriebsamkeit vortäuschten, um unsere gegenseitige Entfremdung voreinander zu verbergen. Auf einmal sah ich das Horoskop in einem anderen Licht; Tränen traten in meine Augen und unter der Traurigkeit blitzte eine jähe Angst auf. Die Angst, Gerson für immer zu verlieren.
„Führst du das Reisebüro inzwischen allein?“, fragte mich Gerson am dritten Tag nach Massimos Abreise.
„Ich habe es ihm doch versprochen! Ich glaube, Massimo ist nach Norwegen gejettet. Er hätte sich ja mal melden können! Wenn er morgen nicht anruft und sagt, wo er steckt …“, ich konnte auf einmal nicht weitersprechen.
„… dann musst du endlich was unternehmen!“, ergänzte Gerson.
„Das sagst du so einfach. Keine Ahnung, wen ich nach ihm fragen könnte. Du kennst doch Massimo, er lebt allein. Und in den Stall kommt er auch nicht mehr. Sein Pferd hat er vor einem Jahr verkauft, als das Geschäft schlecht ging und er die Pferdehaarallergie bekam.“
Nach diesem Gespräch machte ich mich mit düsteren Vorahnungen auf den Weg zur Arbeit. An der Straßenecke knurrte mich ein struppiger Kläffer ohne Halsband an und folgte mir knurrend bis zur nächsten Kreuzung. Ich versuchte, ihn nicht zu beachten, nach ein paar Minuten hatte meine Taktik Erfolg und der Köter blieb zurück. Doch mein dumpfes Gefühl verdichtete sich zu der Ahnung, dass gleich etwas Schreckliches geschehen würde, und diese Ahnung verstärkte sich, je näher ich unserem Reisebüro kam. Vielleicht war Massimo zurück und würde mir eröffnen, dass er den Laden verkauft hätte, und dass ich nicht mehr auf eine neue Anstellung hoffen könnte? Möglicherweise litt er an einer unheilbaren Krankheit und wollte noch alles regeln, bevor er in die ewigen Jagdgründe einginge?
Und dann stand ich vor unserem Laden und sah es. Die ganze linke Seite des Büroschaufensters war mit schwarzer Farbe zugeschmiert. Kein Graffiti mit irgendeiner geheimnisvollen Botschaft, wie sie manchmal an frischgetünchte Hauswände geschmiert wurde, das Fenster war einfach nur rappenschwarz.
Ausgerechnet jetzt war mein Chef auf Dienstreise und ich wusste weder, was ich tun sollte, noch wie ihn erreichen. Die Polizei anrufen? Das wäre Massimo bestimmt nicht recht gewesen. Warum wusste ich nicht, aber er hatte ja wegen der zerbrochen Scheibe auch nur seine Versicherung verständigt. Ich befeuchtete meinen Zeigefinger mit Spucke und rieb auf dem Glas herum. Die Tünche stank fürchterlich, aber nach einer Weile verwandelte sich das Schwarze in eine braune Schmiere und begann sich aufzulösen. Es war gar keine Farbe, es war Kot – Hundekot vielleicht, oder Schweinemist. Jemand hatte Massimos Schaufenster von oben bis unten mit Mist zugekleistert. Was für eine Gemeinheit! Ich schaute mich um. Die Boutiquen auf der anderen Seite hatten noch nicht geöffnet und es waren kaum Fußgänger unterwegs. Wenn ich mich beeilte, konnte ich das Fenster in einer halben Stunde wieder einigermaßen sauber waschen. Es blieb mir nichts übrig, als mich mit einem Eimer Wasser an die Arbeit zu machen. Ich schaffte es, doch als die Scheibe wieder klar war, fühlte ich mich selbst durch und durch schmutzig. Meine Bürojeans hatte ein paar hässliche Flecken abbekommen und ich muffelte nach Schweiß und Jauche.
Ich war noch keine fünf Minuten mit meiner Säuberungsaktion fertig, als der Glaser kam und eine neue Scheibe einsetzte. Wie gut, dass der Handwerker die besudelte Scheibe nicht gesehen hatte. Bestimmt hätte er mir unliebsame Fragen gestellt, auf die ich keine Antwort gewusst hätte. Wenigstens wurde es jetzt wieder ein bisschen wärmer im Büro; doch mit jeder Stunde, die ich alleine dasaß und auf Massimo wartete, wurde es mir ungemütlicher.
Ich konnte einfach nicht mehr so tun, als ob alles in Ordnung wäre. Ich musste unbedingt herausfinden, wo Massimo steckte. Doch gerade, als ich voller Tatendrang Massimos Mailbox unter die Lupe nehmen wollte, sprang mein Handy an. Tracy Chapmans raue Stimme: Matters of the heart . Wehmütig dachte ich an die Zeiten, in denen Gerson mir jede Woche einen neuen Klingelton für mein Handy heruntergeladen hatte, mit so einer Spielerei verschwendete er seine Zeit schon lange nicht mehr. Es war Iris und augenblicklich kletterte mein Stimmungsbarometer steil nach oben. Ich ließ mich wieder auf meinen Schreibtischstuhl sinken und legte die Füße auf den leeren Chefsessel.
„Tschau Vera!“
„Hey, du bist es! Was gibt es?“
„Eine gute Nachricht! Morgen bringe ich dir Nine!“
„Wunderbar! Ich freu mich! Tom hat auch schon gefragt, wann sie kommt!“, sagte ich aufgeregt.
„Moment, freu dich nicht zu früh, es gibt auch eine schlechte Nachricht! Naja“, fügte sie hinzu, „so schlecht wie es klingen mag, ist sie auch wieder nicht.“
„Oh je, bitte nicht! Sag schon, Iris.“
„Alles Paletti hat starken Husten. Wenn ich ihn mitnehme, könnte er Nine anstecken und vielleicht sogar die Pferde in eurem Stall.“
„Dann kann er nicht mitkommen?“, fragte ich überflüssigerweise.
„Es wäre besser, wenn er noch hier in der frischen Juraluft bliebe.“
Weil ich mir für meine Antwort Zeit ließ, hakte Iris nach: „Bist du einverstanden? Alles Paletti bleibt noch hier?“
Ich musste meinen Frosch im Hals verscheuchen, bevor ich antworten konnte. „Ja, ich glaube, es ist besser so“, sagte ich traurig. Eigentlich ist es Glück im Unglück, dachte ich und brachte es trotzdem nicht übers Herz, Iris zu sagen, dass ich bald nicht einmal mehr das Geld für Nine übrig haben würde.
Ich legte auf und wählte gleich darauf Toms Nummer, um ihm die frohe Botschaft von Nines Ankunft zu überbringen. Er wollte immer gleich über alles Neue in seinem Stall informiert sein, und er würde sein Bestes tun, damit sich Nine in ihrer alten Box wieder richtig zu Hause fühlte.
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