„Ich habe Sie warnen wollen“, sagte der Tierarzt.
„Aber wovor denn?“, fragte ich zitternd.
„Unter der Plane liegt Elan. Wir mussten ihn gestern Abend einschläfern. Jetzt warten wir auf den Abdecker.“
„Hat Fango den Tod gerochen?“, sagte ich leise und fühlte eine leichte Übelkeit aufsteigen.
„Wer weiß?“, sagte der Tierarzt und zuckte mit den Achseln.
„Eine Kolik?“
Weil er schwieg, fragte ich noch einmal nach: „Und woran ist er … ich meine, hat er zu viel frisches Gras gefressen?“
„Das wohl nicht – eher eine heftige allergische Reaktion auf irgendetwas im Futter vielleicht. Was es genau war, bekommen wir wohl nie raus.“
„Da wäre ich mir nicht so sicher!“ Jetzt hatte ich endlich meinen Anknüpfungspunkt! Gerade wollte ich Doktor Abnemer in mein Vorhaben einweihen, da hörte ich Hufgetrappel.
„Auf Sie habe ich gewartet.“ Tissa baute sich mit ihrer Stute Mausi vor dem Tierarzt auf, Mausi stand mit hängenden Ohren auf drei Beinen und Tissa sagte mit einem vielsagenden Blick in Doktor Abnemers Richtung: „Der Hufschmied!“
Irgendjemand musste ja schuld daran sein, wenn ein Pferd lahm ging und nur noch auf drei Beinen dastand! Mein vertrauliches Gespräch mit Doktor Abnemer war beendet und meine verdeckten Ermittlungen würden warten müssen.
Die Lust am Reiten war mir für heute verdorben. Fango tobte sich genauso gerne in der kleinen Halle aus. Ich gönnte ihm eine gute halbe Stunde, dann führte ich ihn in seine Box. Um mein schlechtes Gewissen zu beruhigen, weil ich nicht ordentlich geritten war, bürstete ich ihm ausgiebig das Fell.
Ein schrilles Lachen beendete unser Tête à Tête. Warum kam Tissa immer im falschen Moment, fuhr es mir durch den Kopf. Gerson kam nie, wenn ich bei Fango war und Tom auch nicht. Ich fühlte plötzlich einen unheimlichen Groll in mir aufsteigen, dessen Stärke mich erschreckte. Was hatte die Frau mir denn getan? Die Arme auf die Paddockstange gestützt, lugte sie zu uns herein. Warte nur, dachte ich, heute krieg ich dich dran. Ich tat so, als ob ich sie nicht bemerkte, verabschiedete mich von Fango, dann ging ich schnell hinaus auf den Hof, zur Sattelkammer. Hinter mir hörte ich Schritte, Tissa folgte mir.
„Hey, Vera!“
„Hey.“
Tissa blieb vor mir stehen, verknotete ihre Beine, nahm ihren Becher, der Skorpion war direkt auf mich gerichtet. „Na, hast du dich von deinem Schock erholt?“
„Schock? Von welchem Schock denn?“ Ich bekam einen roten Kopf. Hatte sie etwa gesehen, wie ich von Fango abgesprungen war? Aber egal, das war die Gelegenheit, auf die ich gewartet hatte. Ich griff mit der Hand in den offenen Bio-Dyn-Sack in meinem Spind und ließ die Körner ganz langsam durch meine Finger gleiten. Tissa beobachtete mich gespannt; es war verrückt und fahrlässig zugleich, aber ich konnte mir nicht helfen, ich musste dem Impuls folgen! Vielleicht würde ich in Kürze an mörderischen Bauchkrämpfen elendig zu Grunde gehen, doch ich steckte mir ein paar Körner in den Mund und fixierte Tissa dabei mit den Augen. Sie starrte mich an, hielt für einen Wimpernschlag lang den Atem an, dann schrie sie: „Vera!“
Mit so einer heftigen Reaktion hätte ich nicht gerechnet; fast wurde es mir selbst ein bisschen mulmig.
„Was hast du denn, Tissa? Ist was passiert?“, fragte ich mit schlecht gespielter Ahnungslosigkeit.
„Warum kaust du Pferdefutter? Hast du nicht gefrühstückt?“
„Die Leute sagen, es hätte Müsliqualität? Stimmt es etwa nicht? Das wollte ich einfach mal probieren. Mir schmeckt es nicht besonders“, sagte ich und spuckte die Körner in mein Taschentuch.
„Das ist Pferdefutter, kein Müsli“, sagte Tissa barsch.
„Ja, und? Hafer ist auch Pferdefutter und wir Menschen essen es.“ Tissa hatte den Becher abgestellt, unter ihrem dunklen Teint hatte ihre Gesichtshaut eine käsige Farbe angenommen.
„Ist dir nicht gut?“, fragte ich scheinheilig.
„Mir? Wieso? Nein, mit mir ist alles in Ordnung“ sagte sie. „Welches Futter gebt ihr eigentlich Fango?“
„Das Plus, glaube ich.“
Für einen Augenblick sah ich Tissa taumeln und dachte, sie würde stürzen. Doch dann fing sie sich wieder. Wie sie es geschafft hatte, den Skorpionbecher so zu balancieren, dass sie keinen Tropfen verschüttete, war mir schleierhaft.
„Zeig mir mal den Sack, ja?“, sagte sie. Ich tat ihr den Gefallen und ging einen Schritt zu Seite.
„Es ist das normale.“ Sie schien erleichtert, warum wusste nur sie oder der Teufel. Elan hatte angeblich auch nur das „normale“ Futter bekommen und nun lag er steif und kalt unter der Plane und wartete auf den Abdecker. Jetzt war ich mir fast sicher, dass das Zeug giftig war. Ach was, giftig! Hochgiftig sogar!
Ich schüttelte mich, weil ich gerade ein unheimliches Rumoren in meinen Eingeweiden spürte. Natürlich hatte ich die Körner vorsichtshalber nicht zerkaut und schon gar nicht runtergeschluckt, aber was, wenn zum Beispiel ein Stück Mutterkorn darunter gewesen wäre, von denen schon winzige Partikel reichten, um einen Menschen zu töten, oder ein paar getrocknete Hyazinthenblätter? Harmlos waren die ebenfalls nicht. Sie enthielten Oxalsäure und Saponine, die, wie ich bei Wikipedia gelesen hatte, Schleimhautreizungen verursachten, und das bedeutete, Mensch und Tier wurde es schlecht, ziemlich schlecht sogar. Vera, hör auf, Horrorszenarien zu entwerfen, rief ich mich zur Ordnung. Das Kommando wirkte, ich atmete durch und meine Gedanken kamen wieder auf die Reihe, einer hinter dem anderen. Tissa hatte sich selbst entlarvt, das reichte. Jetzt musste ich nur noch wissen, wo dieses Wunderfutter produziert wurde und wer dahintersteckte und wenn ich erst einmal die Laboranalyse von Doktor Abnemer in der Hand hätte, würde ich … sie ins Gefängnis bringen, vollendete ich meinen Gedanken. Aber so weit waren wir noch nicht! Ich musste Schritt für Schritt vorgehen und fragte Tissa ganz direkt: „Wo wird eigentlich dein Futter produziert?“
„Schau einfach auf den Sack“, sagte Tissa schnippisch und ihre Augen verengten sich zu Schlitzen. „Da steht alles drauf. Brauchst du eine Brille?“
Die brauchte ich wirklich, denn so sehr ich mich bemühte, ich konnte einfach kein Kleingedrucktes erkennen. Sie trickst, dachte ich, vor Tissa musste ich mich in Acht nehmen.
Morgens gegen zehn Uhr kamen nie Kunden ins Reisebüro und ich konnte mich in Ruhe mit dem kryptischen Inhalt meines Horoskopes beschäftigen. Schon allein die Ausdrücke waren mir fremd. Saturnrevolution ?
Ich zerfurchte meine Stirn, aber nicht einmal ein Klick auf Wikipedia half mir weiter. Saturn braucht sieben Jahre auf seiner Umlaufbahn. Nach vier mal sieben Jahren steht er wieder da, wo er bei deiner Geburt gestanden hat. Das nennt man die Wiederkehr oder eben die Saturnrevolution, erfuhr ich dort.
Während ich las, hörte ich unser altes Faxgerät rattern. Mit feuchten Fingern zog ich das Blatt heraus, das Schreiben war an mich gerichtet, das sah ich sofort. Iris hatte es mir weitergeleitet, es kam von Claire, die sich bei mir wegen ihrer Vergesslichkeit entschuldigte. In ihrer ersten Sendung an mich habe die Erklärung gefehlt, die ich unbedingt brauchte, um mein Horoskop richtig zu verstehen. Ein Blick genügte, um mich kribbelig vor Neugier zu machen.
„Saturnrevolution. Sei achtsam und vorsichtig. Deine körperlichen Grenzen werden überschritten. Dein Freund trennt sich von dir, oder du musst eine alte Last abwerfen, um den idealen Partner zu finden.“
Ganz unten auf der Seite stand in einer steilen, altmodischen Handschrift: „Chère Madame Vera! Es sind nur Möglichkeiten, Beispiele, die so nicht eintreffen müssen. Zur Erklärung: Ein Horoskop stellt die Urkräfte dar, die seit Ihrer Geburt auf Sie einwirken. Wenn Sie diese Kräfte kennen, können Sie Klarheit in Ihrem Leben erlangen. Ich wünsche Ihnen Glück und Kraft auf Ihrer Reise, cordialement, Claire, und ich bitte Sie noch einmal, mir mein Versehen zu verzeihen.“
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