15 Minuten später stand ich vor Fangos Box und rief seinen Namen, er lag langgestreckt im sauberen Stroh. Als er mich bemerkte, ging ein Zucken durch seinen Körper, er spitzte die Ohren und schaute aufmerksam in meine Richtung. Dann brummelte er mir freundlich zu, doch er machte keinerlei Anstalten aufzustehen. Leg dich zu mir, schien er zu sagen, doch dieser Aufforderung wollte ich wirklich nicht nachkommen!
Um mich aufzuwärmen, mistete ich Fangos Box aus. Kaum hatte ich angefangen, mit der Mistgabel im Stroh herumzustochern, gab sich Fango einen Ruck, streckte die Vorderbeine aus und wuchtete seine 600 Kilo in die Höhe. Ausmisten tat gut, es half mir in fast jeder Lebenslage. Vor allem dann, wenn ich mich klamm oder wütend fühlte. Ich kam wieder in Schwung, lud meine aufgestauten Beklemmungen auf die Karre und kippte sie auf den Misthaufen – weg damit! Auf geheimnisvolle Weise verflüchtigten sich bei der körperlichen Arbeit meine bösen Vorahnungen, und meine Energieströme kamen wieder in Fluss.
Fangos Fell striegelte ich im Schnellverfahren – er trug eine Winterdecke, sein dünnes Fell war nicht verklebt, das erleichterte das Putzen. Fango benahm sich wie ein braver Junge, stand ruhig und gab auf Kommando die Hufe.
Hier am Putzplatz hatte es früher immer eine Gelegenheit für einen Plausch gegeben. Doch in letzter Zeit war es öfter vorgekommen, dass außer mir und Tom, der um diese Zeit mit Stallarbeiten und Füttern beschäftigt war, keine Menschenseele auftauchte.
Als ich den Sattel aus meinem engen Spind wuchtete, hörte ich Hufgetrappel. Die neue Stallnachbarin, die ich auf mein Alter, Ende Zwanzig, schätzte, führte ihren Friesen um die Scheune herum. Er schonte seinen rechten Vorderfuß und der Tierarzt hatte wohl ein paar Minuten schrittführen verordnet. Bestimmt kein Vergnügen bei dieser Kälte, dachte ich. Ich hätte sie gerne gefragt, was mit ihrem Schwarzen los war; doch als sie das dritte Mal an mir vorbeilief, ohne Notiz von mir zu nehmen, rief ich ihr nur ein „Guten Morgen“ zu. Auf einmal blieb sie stehen und bellte: „Bring drei Säcke Mash!“ Dann richtete sie ihre Blicke aus zusammengekniffenen Augen wie Pfeile auf mich. „Nicht mal im Stall kann man in Ruhe telefonieren!“ Mürrisch zog sie den Stöpsel aus dem rechten Ohr. „Ich habe mit meinem Mann gesprochen! Wollten Sie irgendetwas von mir?“
„Nein“, sagte ich und versuchte mir ihren Mann vorzustellen. Mit Gerson würde ich so nicht sprechen. Ob ich mich entschuldigen musste, weil ich sie gestört hatte? Aber ich sah die beiden nur noch von hinten. Die Frau hatte ihren Stöpsel wieder ins Ohr gesteckt und gab weiter ihre Bestellungen auf.
Ich legte Fango die Trense an, zog den Sattelgurt nach, was mit einen giftigen Blick mit zurückgelegten Ohren quittiert wurde und ging mit ihm in Richtung Reithalle. Neugierig betrachtete er den Schnee auf dem kleinen Rasenstück und versuchte, seine Nase hineinzustecken. Seine Laune war nicht besonders gut, vor jeder Schubkarre stockte er und legte die Ohren an. In der Halle lag noch ein leichter Dieselgeruch, Tom war gerade mit dem Planer durch den Sand gefahren, es würde ein paar Minuten brauchen, bis sich der Gestank verzogen hatte.
„Steh!“ Fango hielt am Aufsteige-Bänkchen in der Mitte der Reithalle an, ich stieg die drei Stufen hinauf, schob meinen Fuß in den Steigbügel und schwang mich in den Sattel. Gerade als ich die Zügel aufnehmen wollte, sprang mein Handy an: Dadada Dam , auf maximaler Lautstärke. Fango schien auf so eine Abwechslung nur gewartet zu haben. Er reckte seinen Hals auf und machte einen Satz vorwärts. Mechanisch schloss ich die Beine, was mich vom Herunterfallen bewahrte, doch Fango nahm meinen Beinschluss als Flucht-Signal. Alles ging rasend schnell, lass los, dachte ich, einfach loslassen, dann ist es vorbei – da packte mich nackte Angst – Nein! schrie es in mir, nimm endlich die Zügel kürzer, so kurz wie möglich, zieh ihn in eine Volte, Vera, mach endlich was!
In der Mitte der langen Seite kamen wir zum Stehen. Fango schnaubte und blickte wild um sich, mein Herz klopfte und ich gab langsam die Zügel nach. Fango entspannte sich und ich klopfte ihm den Hals. „Alles klar, Junge, du hast ganz recht, telefonieren und reiten passen nicht zusammen.“
Zu unserer Beruhigung ließ ich ihn eine Runde Schritt am langen Zügel gehen. Wer hatte mich eigentlich angerufen? Vorsichtig kramte ich nach meinem Handy und schaute auf das Display. Eine Schweizer Nummer – Iris! Ich musste sie zurückrufen, sie war so schwer zu erreichen, vielleicht hatte sie etwas über die mysteriösen E-Mails herausgefunden. Fango benahm sich wieder wie ein braver Junge, er würde mir einen kurzen Anruf nicht übel nehmen.
„Hallo Vera, gut, dass du dich meldest! Ich muss dir etwas Schreckliches sagen, etwas, womit ich niemals gerechnet hätte!“
Augenblicklich bereute ich, dass ich sie angerufen hatte. Mit meiner Konzentration war es mit einmal vorbei, wahrscheinlich musste ich Fango in der kleinen Halle frei laufen lassen, damit er sich austoben konnte, mit mir war jetzt nichts mehr anzufangen. „Was gibt es?“, sagte ich gepresst.
„Paletti ist tot!“
Ich verstand sie nicht gleich. „Wer ist tot?“
„Paletti, Nines Hengst, er ist tot zusammengebrochen, während des Trainings für den Stationstest.“
„Iris, sag bitte, dass das nicht wahr ist!“
„Doch, es ist leider so. Und das Schlimmste – wir wissen nicht, woran er gestorben ist – er war kerngesund und in einem ausgezeichneten Trainingszustand. Vera, hör mir zu! Sein Tod kann irgendwie mit den Mob Mails in Zusammenhang stehen.“
„Du meinst, jemand hat ihn umgebracht?“
„Ich weiß es nicht, es gibt auch Vermutungen, dass es ein unbekannter Virus gewesen sein könnte, jedenfalls steht der ganze Auktionsstall erst mal unter Quarantäne.“
„Um Gotteswillen – meinst du, er hat Nine ...“
„Angesteckt?“ Iris sprach aus, was ich nicht auszusprechen wagte. „Nein, das glaube ich nicht! Na ja, die Ärzte wollen es nicht ausschließen, bis sie den Beweis für das Gegenteil in der Hand haben.“
Fango war stehengeblieben und schaute aufmerksam in Richtung Hallentor. Ich atmete tief durch. Am Eingang stand Luis; seit unserer merkwürdigen Begegnung im Reisebüro hatten wir uns nicht mehr gesehen. Ich hatte den Hörer immer noch am Ohr. „Vera“, hörte ich Iris sagen, „ich muss jetzt Schluss machen. Ich melde mich so bald wie möglich noch einmal.“
„Was für eine Übung habt ihr denn gerade geprobt?“ grinste Luis.
„Oh, meinst du etwa unseren mörderischen Galopp?“
„Genau so sah es aus – ich habe alles von der Tribüne aus beobachtet. Ich hätte dich warnen sollen – Fango reagiert allergisch auf Telefonklingeln – warum weiß ich nicht, frühkindliches Trauma, oder so. Und außerdem …“; er klang wie ein kleiner Junge, der etwas falsch gemacht hatte und es nicht zugeben wollte: „Und außerdem muss ich dir gestehen, dass ich ihn gestern nicht geritten habe. Er ist einen Tag lang gestanden, da hat er heute wohl ein bisschen Dampf gehabt!“
„Na, dann ist mir alles klar.“ Auf einmal ging es mir wieder besser. Meine Energie kam zurück, und ich freute mich, dass Luis gekommen war.
„Vera, du bist ja immer noch ganz weiß um die Nase. Ich habe meine Reitstiefel an, ich kann ihn noch ein paar Minuten bewegen.“
Luis' Fürsorglichkeit tat mir gut. „Nein, das kommt überhaupt nicht in Frage. Es war meine Schuld, ich hätte besser aufpassen sollen. Ich war in Gedanken, der dumme Telefonanruf hat mich irritiert.“
„Wer war es denn?“
„Iris“, sagte ich kurzangebunden, denn ich wollte auf keinen Fall über ihre Hiobsbotschaft reden. Nicht jetzt, später vielleicht.
„Deine Freundin aus Montmirail?“
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