Ich erstarrte. Nicht möglich – wer denn? Und warum gerade jetzt?
Auf der Tribüne stand Gerson. „Jetzt zeig mir mal dein Wunderpferd, reite mir was vor!“, rief er mir zu. Er war bester Laune, doch meine Stimmung sank augenblicklich auf den Nullpunkt.
Auf Kommando vorreiten? Unmöglich! Was dachte sich Gerson eigentlich? Ich warf Luis einen schnellen Blick zu, er schien mich zu verstehen, denn er nickte. Dann saß ich ab und übergab Luis die Zügel. Gemeinsam gingen wir zum Ausgang. „Sie sind ein paar Minuten zu spät gekommen“, sagte Luis.
Gerson zuckte die Schultern und lachte. „Ihnen gehört also das Wunderpferd, von dem Vera so schwärmt? Ich habe Sie mir anders vorgestellt, viel ...“
Das hätte noch gefehlt – wenn Gerson ausplauderte, was ich ihm über Luis erzählt hatte! Es wäre mir peinlich gewesen, wenn Luis mitbekommen hätte, dass ich mit Gerson über ihn geredet hatte. Und noch peinlicher, wenn Luis erfahren hätte, was ich über seine berufliche Situation erzählt hatte. Luis hatte mir nicht einmal gesagt, in welcher Branche er arbeitete. Was ich über ihn wusste, hatte ich von Tom, und der Rest war frei erfunden.
„Gibst du mir mal den Hufkratzer?“ Gerson schaute sich um, hob einen Kratzer vom Boden auf und gab ihn mir. Ich hatte mich schnell wieder gefangen und sagte so ruhig wie möglich: „Genau, das ist Luis Maertens, der Besitzer von Fango.“ Während ich mich bückte, um Fangos Hufe zu säubern, gaben sich die beiden Männer die Hand. Ich ließ mir viel Zeit und als ich mit den Hufen fertig war, nahm ich den Besen und kehrte den Sand zusammen.
„Ich lade Sie zu einem Glas Prosecco ins Reiterstübchen ein.“, sagte Luis.
„Alkohol? Um diese Tageszeit?“ Gerson konnte Luis nicht ausstehen, und er zeigte es ihm deutlich. Doch Luis ließ sich von ihm nicht einschüchtern.
„Fango ist nicht leicht zu reiten und Ihre Frau weiß ihn zu packen.“
Ich zuckte zusammen, meinte Luis etwa, dass Gerson und ich verheiratet wären?
Gerson lächelte gequält. „Ja, das hat sie mir erzählt.“
„Ich habe Vera vorgeschlagen, Fango zu reiten, selbstverständlich werde ich den Beritt bezahlen“, sagte Luis sachlich wie ein Geschäftsmann. Es ging ihm nur um Fango, das fiel sogar Gerson auf. „Vera hat auf Nine viel gelernt und Iris lobt sie sehr.“ Es klang wie eine Art Friedensangebot.
Erleichtert legte ich den Hufkratzer in den Holzkasten zu den Bürsten und Striegeln, griff noch einmal zum Besen und fegte Fangos Hinterlassenschaften an die Seite. Die beiden Männer schwiegen sich jetzt verbissen an; Gerson trat von einem Fuß auf den anderen und fixierte mich. Die Situation war nicht auszuhalten.
„Ich bringe Fango zum Hänger“, sagte ich, „ihr zwei könnt ja schon mal ins Reiterstübchen gehen.“
Ich brauchte dringend frische Luft. Obwohl es noch nicht einmal 19 Uhr war, war es draußen schon dunkel. Die Abendluft war frisch und klar und mit jedem Atemzug fühlte ich mich wohler. Das war gerade noch einmal gutgegangen! Was war bloß in Gerson gefahren? In den letzten drei Jahren war er schätzungsweise ein- oder zweimal bei Nine und mir vorbeigekommen, aber nur, um Abwechslung in seine Bikertrainingsstrecke zu bringen. Statt nach Weinheim fuhr er die Runde über Schwetzingen, und dabei kam er unweigerlich am Leierhof vorbei. Doch ausgerechnet heute hatte er sich ins Auto gesetzt und war in den Stall gefahren! Warum denn? Um mich reiten zu sehen? Was sah er da schon? Die drei Gangarten Schritt, Trab und Galopp konnte er inzwischen unterscheiden, doch ihm fehlte ein Blick für Feinheiten, für Übergänge, für das Zusammenspiel von Pferd und Reiterin, kurz, für alles, was mir Reiten bedeutete. Warum also ausgerechnet heute?
Ich führte Fango auf die heruntergelassene Rampe, er ging brav in den Hänger und machte sich über das prall gefüllte Heu-Netz her. Ich stemmte die Rampe hoch und verriegelte die Tür. Morgen würde Iris Nine ins Jura bringen; bevor ich mich zu den beiden Männern setzte, wollte ich schnell noch einmal bei ihr vorbeigehen und nachsehen, ob die Stute gut eingedeckt war.
Am Putzplatz vor dem Stall stand eine neue Einstellerin mit ihrem Pferd. Sie war vor kurzem mit ihrem Friesen, einem massigen, schwarzen Kerl, auf den Leierhof gekommen. Die Frau schaute kurz auf, als ich vorbeiging und nickte mir zu. Sie hatte die Stöpsel eines Headsets in den Ohren und murmelte irgendetwas vor sich hin. Von den anderen Pferdebesitzern ließ sich heute Abend keiner blicken.
Als Roberto noch Reitlehrer bei uns war, herrschte um diese Zeit immer Hochbetrieb. Die Pferdemädchen hatten ihre Hausaufgaben erledigt oder kamen von der Arbeit und Roberto gab eine Reitstunde nach der anderen. Doch nach seinem plötzlichen Weggang hatte sich alles geändert. Zwar waren die meisten Boxen wieder belegt, doch Tom musste sich anstrengen, um die Pferdebesitzerinnen, die immer anspruchsvoller wurden, was das Futter und die Einstreu anging, bei der Stange zu halten.
Im Stall war es wärmer als draußen, die Pferde standen mit gesenkten Köpfen in ihren Boxen und kauten geräuschvoll an ihrem Heu. Ein kurzer Blick in meine Richtung, ein aufgerichtetes Ohr, ein Schnauben, das war alles.
Nines Boxentür stand offen. Wie gut, dass ich noch einmal nachgesehen hatte; es war meinem Pferd zuzutrauen, dass sie die Tür ganz aufschieben und einen Ausflug auf die Stallgasse machen würde. Tom ließ sich beim Füttern immer viel Zeit, er hatte noch nie vergessen, die Gittertür zuzuschieben, doch wer sonst hätte die Tür öffnen können?
Ich blieb wie angewurzelt stehen, was ich sah, rührte mich zu Tränen.
Gerson stand neben Nine, er hatte einen Arm über ihren Widerrist gelegt und seine Wange an ihren Hals geschmiegt. Die beiden schienen so vertraut miteinander, als ob sie jeden Tag stundenlang miteinander spazieren gingen. Nine, die meine Nähe spürte, spitzte die Ohren und streckte mir den Kopf entgegen, und Gerson sagte, sichtlich verlegen: „Sie fährt doch weg morgen, ich wollte mich von ihr verabschieden.“
Ich ging auf ihn zu und dann umarmten wir uns. Nine schnaubte leise, als wolle sie sicherstellen, dass alles in Ordnung mit uns wäre, dann legte sie ihren Kopf für einen Augenblick auf Gersons Schulter. Sie schaute mich an, schnaubte noch einmal und knabberte an ihrem Stroh.
„Wenn alles gut geht, sind wir in fünf Stunden da.“ Iris stieg in ihren dunkelgrünen Range Rover. „Ich ruf dich an, sobald ich Nine ihren neuen Stall gezeigt habe.“
„Wir bleiben in Kontakt! Informiere mich über alles, was Nine betrifft, auch Belangloses.“
„Versprochen!“
Ich ging um den Hänger herum und kontrollierte die Tür. Wenn es so etwas wie ein gutes Vorzeichen gab, dann war es der Umstand, dass Nine ohne den geringsten Widerstand in den Anhänger gegangen war. Mit Grausen erinnerte ich mich, wie sie sich gegen das Verladen gesträubt hatte, als ich sie wegen einer schweren Kolik in die Tierklinik hatte bringen müssen. Ein Schritt auf die Rampe; Stopp. Reiterstandbild. Zwei Schritte zurück, dann wieder einen Schritt vor und gleich zwei zurück. Und das Ganze noch einmal und dann noch einmal. Ich fuhr zusammen. Iris hupte. Sie wollte los, je früher sie ankämen, desto besser. Das Wetter würde halten, und es war Sonntag, da blockierten die LKWs nicht die ganze rechte Fahrspur auf der Autobahn.
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