Schweißgebadet wachte ich neben Gerson auf, der friedlich vor sich hin schnarchte. Sie hat mich nicht mehr gehört, dachte ich, ich wollte ihr noch sagen, dass sie sich auf mich verlassen kann. Unsere Verbindung war abgerissen. Ich drehte mich auf die andere Seite und beruhigte mich mit dem Gedanken, dass Nine bei Iris in guten Händen war.
Am nächsten Morgen wurde ich durch ein penetrantes Kratzen draußen auf der Straße geweckt. Das Fenster stand einen spaltbreit offen und ein kalter Windzug streifte meine Stirn. Ich stand auf und schaute hinaus. Im fahlen Licht der Straßenlaterne tanzten Schneeflocken, die Autos waren mit einer weißen Haube überzogen. Unser Nachbar machte sich mit der Schneeschippe auf dem Gehweg zu schaffen. Wenn es noch morgen so weiter schneite, würden auch wir zur Schippe greifen müssen.
Aus dem Badezimmer hörte ich Gersons Rasierapparat brummen. „Du hast immer noch keine Winterreifen montieren lassen?“, rief er.
Winterreifen? An alles hatte ich gedacht, nur nicht an Winterreifen.
„Zu spät, kaufen kannst du bestimmt keine mehr!“
Glücklicherweise musste ich mit meinem Golf nicht über Land fahren. Zum Leierhof würde ich auch mit meinen abgefahrenen Sommerreifen kommen. Die Hauptstraßen waren meistens gut geräumt und gestreut. Aber wenn ich zu Nine ins Jura fahren wollte?
„Komm bloß nicht auf die Idee, mit deiner klapprigen Kutsche ins Gebirge zu fahren.“
Genau das hatte ich vorgehabt. „Vielleicht schneit es nächste Woche nicht mehr“, sagte ich hoffnungsvoll.
Gerson zog den Stecker aus der Dose, kam zu mir ins Schlafzimmer und sah mich entgeistert an. „Bist du eigentlich von allen guten Geistern verlassen? Selbst wenn der Schnee von gestern wegtaut, kann über Nacht Neuschnee fallen und es kann zu Glatteis und Schneeverwehungen kommen. Montmirail liegt immerhin über 1000m hoch.“
„Unbedingt Iris anrufen!“ Den Zettel fand ich auf dem Küchentisch, als ich vom Yoga nach Hause kam. Yoga tat mir gut; ich hielt mich fürs Reiten fit und blieb gelenkig. Beim Üben waren wir Frauen unter uns und unsere Lehrerin verstand es, uns schnell in einen entspannten Zustand zu versetzen. Während dieser Stunde verstummte mein nerviger innerer Lautsprecher vollständig. Die Übungen mäßigten meine Ungeduld und dämpften meine dunklen Vorahnungen, wenn ich an Nine dachte, und wie lange ich von ihr getrennt sein würde.
Umso krasser empfand ich jetzt die Wirklichkeit meines Alltags. Da war der Zettel mit der Nachricht von Iris und jede Menge schmutziges Geschirr für Suppe, Hauptgericht und Nachspeise für zwei Personen. Gerson hatte einfach alles auf dem Küchentisch stehen lassen. Für wen hatte er da gekocht? Und warum waren sie so hastig aufgebrochen? Ohne große Hoffnung schaute ich in den Kühlschrank – nein – von dem wahrscheinlich opulenten Mahl war nichts übrig geblieben.
Mit spitzen Fingern fing ich an, Teller und Gläser in die Spülmaschine zu klemmen. Mit jedem Teil wuchs mein Groll. Eine dumpfe Ahnung sagte mir, dass es keiner unserer gemeinsamen Freunde war, den er bewirtet hatte.
Klingelte da nicht das Telefon? Iris, durchfuhr es mich, ich hätte mich gleich bei ihr melden sollen! Es war schon zehn Uhr, wenn sie so spät noch anrief, dann bedeutete das nichts Gutes. Hoffentlich war Nine nicht gestürzt! Auf dem glatten, eisigen Boden ausgerutscht, weil sie sich noch nicht ans Barfußlaufen gewöhnt hatte? Eine Sehnenzerrung oder ein dicker Bluterguss, der aufs Sprunggelenk drückte? Eine Erkältung? Sie war zwar geimpft, doch gegen fremde Viren bot die beste Impfung keinen Schutz. Wo hatte Gerson nur den Apparat hingelegt – nie brachte er ihn auf die Basisstation zurück! Da, in der Sofaecke blinkte etwas. Der Anrufbeantworter sprang an, und ich hörte Iris' Stimme: „Hallo Vera“, hastig griff ich zum Hörer und rückte auf die grüne Taste. „Ich bin's. Was gibt es? Hoffentlich nichts Schlimmes!“
„Wie man's nimmt. Willst du die gute oder die schlechte Nachricht zuerst hören?“
Es gab also eine Wahl und ich sagte: „Die gute!“
„Halt dich fest: Paletti ist gekört worden. Er hat unsere Erwartungen voll und ganz erfüllt. Er ist als Sieger aus allen Prüfungen hervorgegangen.“
„Uff, uff, uff!“ Der Indianerruf aus den Winnetou-Büchern meiner Kindheit war der einzige gute Kommentar, der mir zu dieser Meldung einfiel.
„Und die schlechte Nachricht?“
„Na ja, wirklich schlecht ist sie eigentlich auch nicht. Setze dich lieber: Paletti soll den 40-Tage Stationstest absolvieren.“
„Und Nine?“
„Was soll mit Nine sein, es geht ihr prächtig!“
In diesem Augenblick hörte ich, wie die Wohnungstür aufgeschlossen wurde. „Iris, entschuldige, ich muss Schluss machen, wir telefonieren morgen noch einmal.“ Kaum hatte ich das Gespräch beendet, stand Gerson in der Tür.
„Hast du mit deinem Lover telefoniert, weil du gleich aufgelegt hast, als ich hereingekommen bin?“
„Ach Gerson!“ Ich war viel zu glücklich, um ihm für seine dumme Stichelei böse zu sein.
„Seit wann können Pferde telefonieren? Paletti ist als Sieger aus der Körung hervorgegangen!“
„Na, dann ist ja wieder mal alles paletti“, schmunzelte Gerson. Sein Blick fiel auf den Esstisch.
„Du hättest nicht aufräumen brauchen! Sandy musste schnell zum Zug, da habe ich ihr angeboten, sie hinzubringen.“
Hatte ich richtig gehört – Sandy?
„Meine Kollegin aus der Redaktion – wir planen eine Fototour, die muss gut vorbereitet werden.“
„Und warum weiß ich nichts davon?“
„Ach Vera, come on , ich habe dir doch neulich alles genau berichtet – dass wir nach Denver, Colorado fliegen – oder etwa nicht?“
„Hast du nicht, aber das macht nichts. Von Denver ist es nicht weit nach Wyoming, da werde ich Liberty Bescheid sagen, die wird ein Auge auf dich haben!“
Gerson ging zum Küchenschrank und nahm zwei Gläser heraus.
„Wir haben noch zwei Flaschen Ulisses Lima . Es sind die letzten. Ich schlage vor, wir machen eine auf, und ich erzähle dir alles noch einmal ganz von vorn.“
Seinen Ulisses Lima hütete Gerson wie einen Goldschatz. Wenn er freiwillig eine Flasche des kostbaren chilenischen Rotweins anbot, dann gab es entweder etwas zu feiern oder er hatte ein schlechtes Gewissen und wollte etwas wiedergutmachen. Und heute?
„Ich möchte einfach mal wieder mit dir auf dem Sofa sitzen und Rotwein trinken“, sagte er lächelnd und daran wollte ich nicht zweifeln.
„Wunderbar! Ich schneide mir einen Kanten Brot ab und nehme mir ein Stück Käse dazu.“
Gerson sah mich zerknirscht an: „Oh, du Arme, du hast noch nichts zu Abend gegessen!“
Er legte den Arm um meine Schulter und wir gingen ins Wohnzimmer. Gerson öffnete die Flasche mit einem satten Plopp, goss einen Finger breit Rotwein in sein Glas und hielt inne. „Moment! Fast hätte ich es vergessen! Ich habe dir etwas mitgebracht!“ Er sprang auf, ging hinaus und kam mit einem quadratischen Päckchen zurück. „Das ist für dich – with love from me to you !“ Er drückte mir ein Küsschen auf die Lippen, überreichte mir das Päckchen und widmete sich wieder dem Einschenken.
Ein kleiner blauer viereckiger Umschlag, er fühlte sich hart an – eine CD, aber welche? Oldies von Simon and Garfunkel, Jazz aus dem vorigen Jahrhundert von Keith Jarett oder moderner Jazz – Helgoland von Jonas Westergaard? Cellostücke vom großen Johann Sebastian, oder die neue CD von Bob Dylan? Gersons Musikgeschmack war abseitig und er ließ nichts unversucht, mich auf seine Seite zu ziehen.
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