Bloß gut.
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Die Schillerehrung im Schauspielhaus
Sie hatten sich verpflichtet, an der Schillerehrung im Schauspielhaus teilzunehmen. Die orangefarbene Sonne versank an einem sonst grauen Himmel. Den Auwald tränkte Frühjahrsnässe. Regina setzte sich zwischen Irina und Walter, neben ihm saß Hans Joachim. Das Haus füllte sich. Der Platz zwischen Johannes und Pockrandt war frei. Bei Vorträgen sitz ich gerne vorn, sagte Regine, Abiturklasse, die er vom Sportfest kannte und setzte sich. Sie hatte ein hochgeschlossnes Kleid mit kleinen Kragenecken.
Schwer zu sagen, ob es damit anfing.
In der ersten Reihe kam Beifall auf. Korffs Junge Gemeinde, murmelte Pockrandt. In der Körperhaltung nicht mehr ganz sicher, in Gamaschen, trat Professor Korff ans Rednerpult, und Zschiedert applaudierte. Der Beifall übersprang die vorderen Reihen.
Pockrandt hatte keine Hand gerührt. Das Mädchen, das Regine hieß, flüsterte: Ich sag dazu später was. Es kam nicht dazu. Ihr Freund wartete.
Johannes ließ sich von Frau Wolfram die Gamasche erklären. Zu Friedenszeiten trugen das feine Messegäste unter der Anzughose, der Überstrumpf war die Halbgamasche.
Über drei Punkte wolle Korff zum Schillerfrühling sprechen. Ist Schiller ein politischer Dichter gewesen? Zweitens. Welche Auffassung hatte er vom Wesen und von der Aufgabe der Kunst? Drittens. Zum ästhetischen Moment in Schillers Wirken.
Johannes schrieb was auf. Pockrandt schob die Lippen vor.
Ist Schiller ein politischer Dichter gewesen oder nicht? Für Korff war Schiller ein leidenschaftlich Vorwärtsstürmender, der den Weg zu den Sternen suche, getrieben vom Drang nach Höhe und Größe. In Kampf und Widerstreit sind die gewaltigen Jugendwerke entstanden, und die waren Ausbruch eines großen Geistes. Schiller gestalte den großen Menschen auf dem Kolossalgemälde der Zeit, die ihm zur Darstellung die Mittel gäbe. Seine Entwicklung verlief stürmisch vorwärts – experimentell, nach allen Seiten –, aber er wurde nicht zum politischen Dichter.
Typisch idealistisch! zischte Pockrandt. Muss Büchner lesen, den Danton, den im Räderwerk der Revolution steckenden Menschen.
Stimme in der hinteren Reihe: Ruhe!
Im Mittelpunkt stehe das Ringen großer Menschen, zum Beispiel Kabale und Liebe. Die Helden scheitern nicht an den gesellschaftlichen Verhältnissen, sondern an ihrer eigenen Unzulänglichkeit.
Niemals!
Das Mädchen aus der Abiturklasse: Jetzt halte einfach mal den Mund!
Zwischen Don Carlos und Wallenstein liege in Schillers Schaffen eine Pause von mehreren Jahren, der gereifte Dichter habe sie benötigt, um sich der eigenen, rein gefühlsmäßig vollzogenen Entwicklung bewusst zu werden. Das führe vom »Kraftmenschen«, man denke an Die Räuber, zum Edelmenschen. Ich glaube, das Wort sagte er. Nach der Größe des Menschengeschlechts fragte der Vortrag auch.
Die höchste Forderung in Schillers hoher Tragödie sei das Wecken der Begeisterung und die Parteinahme für das Edle. Für Schiller bestehe der Sinn der Kunst darin, wenn ich richtig mitgeschrieben habe, die Wirklichkeit in Bildern zu erleben, ohne von den Bildern erschlagen zu werden.
Die Geschichtsphilosophie bereichere Schiller durch die Herausstellung des Anteils der Kunst an der Menschheitsentwicklung.
Menschheit! Die zerfällt in Klassen, murmelte Klaus.
Bei Regine entdeckte er einen winzigen Ohrring, als sie ihm zuflüsterte: Sag nichts. Er spürte ihr Haar.
Warum sei die Tragödie Gegenstand der Kunst, obwohl sie Zerwürfnis und Niedergang zeige, ja Schiller den Untergang geradezu feiere? Trotzdem verließe der Zuschauer das Theater in erhabener Stimmung. Liebe bzw. Hass empfinde der Mensch beim Kunstgenuss. Diese Fähigkeit des Menschen habe den Dichter angetrieben, den Kunstgenuss theoretisch zu fassen.
Ende und Beifall.
Regine stand auf. Bis zum Wiedersehn, ich werde erwartet.
Friedhelm hatte den Vortrag verschlafen. Korff war gut, was? Wie ich dich kenne, hast du mitgeschrieben.
Er wartete an der Schulbaracke: Seh ich schlimm aus?
Erschreckend!
Glaub ich dir nicht. Sie liebt mich, bloß ich bin fix und fertig.
Hab nicht alles verstanden, ich tröste mich, dass seine Jünger, die ihm zu Füßen gesessen haben, auch nicht alles verstehen. Vom Wissen hängt es ab. Ich weiß zu wenig.
Korff hätte ich mir gern angehört, ich frag mich, was sie hundertfünfzig Jahre nach unserm Tod über uns sagen werden? Über mich? Den Eichler. Der war ein ... Wie sagt Irina?
Molch. Nein, Lustmolch. Der Eichler war ein Lustmolch, der für sein Leben gern vögelte, werden sie sagen, wenn sie überhaupt was sagen. War ihr Lustmolch auch dort?
Regina saß dazwischen.
Siehst du, das sind die Zufälle. So ein Zufall ist verräterisch. Frauen erzählen sich alles, wenn sie glücklich sind, musst du wissen, und sind sie unglücklich, auch. Wirst es erleben.
Wie meinte er das? Dass die aus der Abiturklasse neben ihm saß, war Irina bestimmt nicht entgangen und Regina auch nicht.
Mittag wars. Wir nehmen die Bank. Die trugen sie auf die Wiese und machten in der Märzensonne die Beine lang. Wenn eine auf ihre Tage wartet, ehe sie’s dir sagt, sagt sie’s der liebsten Freundin, setzte er das Gespräch fort, bilde mir das wenigstens ein. War bei Bärbel so, die hat mal verzweifelt gewartet.
Sie sahen zu, wer die Freitreppe herunterkam und den Klubraum verließ. Friedhelm tippte mit der Fußspitze den Takt einer Melodie. Sonnenstrahlen hellten die Gesimse aus Porphyr auf.
Friedhelm rauchte sich eine an. Die nach uns kommen, werden vielleicht nicht mal mehr wissen, dass es uns gegeben hat. Kannst du dir vorstellen, dass du restlos weg bist?
Ja, habs gesehn, zweimal, wenn Erde reinfällt und der drin liegt, auch zu Erde wird. Die schaufeln neu aus, wenn die Zeit rum ist. Auf den Friedhof geht ihr wohl nicht?
Friedhelm schüttelte den Kopf. Den Vater haben die Fische gefressen, meinen, und Mutter hat das Elterngrab aufgegeben, ich weiß nicht mal genau, wo es war. Er ließ die Schultern hängen. Ist bei dir anders, du Bauer, bist du doch?
Johannes verschlug es die Sprache, was Friedhelm bemerkte. Ich meins anerkennend, positiv, wenn ich an die Äpfel denke, die du im Koffer angeschleppt bringst. Friedhelm lachte.
Isst erst die gedrückten, die ramponierten, danach die guten, ich machs umgekehrt, sagt Irina.
Damit ärgerten sie ihn. Stirbt der Bauer, bekommt er seinen Platz, wo die andern schon liegen, und glaubt er, dass er dem Dorf was bedeutet, liegt der Bauer eben vor der Kirche. Als hätte Friedhelm gesehn, wo die Patzigs liegen. Wer in die Kirche geht, muss an ihnen vorbei. Rolf Patzig hat keine Kinder, der wird das Elterngrab mal aufgeben. Als er aus Gefangenschaft kam, sagte er, mich hätten die Fische beinahe auch gefressen. Sie haben mich rausgefischt.
Sie drehten die Bank zur Sonne. Den Korff hätte ich gerne gehört, schade, ein Lehrer aus meiner Penne redete von ihm, der hatte ihn im Examen.
Du hättest vielleicht auch nur die Hälfte verstanden.
Einen Großen muss man nicht immer verstehen, aber die Hälfte verstehn, nimm mirs nicht übel, geht überhaupt nicht, die ist dann auch unverstanden. Den Geist der Goethezeit bewunderte unser Deutschlehrer. Von Korff hat er eine extrem hohe Meinung gehabt. Kommt bei Morgenstern vor, der Name, sonst hätte ich ihn mir als Schüler vielleicht nicht gemerkt.
Schiller suchte den Weg zu den Sternen, sagst du, seine gewaltigen Jugendwerke sind Ausbruch eines großen Geistes.
Ich habs so mitgeschrieben, nur die Zeit hätte dem Dichter die Mittel an die Hand gegeben, etwas Gewaltiges darzustellen. Seine Entwicklung verlief stürmisch. Das sind Stichpunkte. Er wäre kein politischer Dichter gewesen. Ich irre mich nicht, dass er das gesagt hat; denn Pockrandt protestierte.
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