Der folgende weitere Nürnberger Reichstag von 1524 befand auch nur, die Reichsacht sei zu vollstrecken, „soweit möglich“. Gleichzeitig erhob er die schon länger vorhandene Forderung, ein Konzil einzuberufen, durch den Papst mit kaiserlicher Bewilligung, und zwar in Deutschland.
Ein Konzil, das war für den neuen Papst Clemens VII. (1523 – 1534) geradezu die Pest. Die Deutschen verlangten dabei auch die Teilnahme von Laien, wie es in Konstanz 1414 und in Basel 1431 gewesen war. Dazu noch die Wahrscheinlichkeit, dass sie auf dem Konzil reformatorische Standpunkte geltend machten!
Der Kaiser im fernen Spanien untersagte es aufs Schärfste. Er hatte sich nicht zu einem „Reichsregiment“ für seine Abwesenheit herbeigelassen, damit dieses ihm seine wesentliche Aufgabe entwand, die Einheit der Christenheit zu wahren. Der Vorschlag zeugte aber immerhin von nationalem Selbstbewusstsein, wie es bei den Tschechen im Unterschied dazu erst nach der Einberufung des Konzils von Konstanz an Kraft gewonnen hatte. Karl V. war seinerseits nicht in der Lage, dem Papst ein Konzil aufzuzwingen, da er im Krieg mit Frankreich befangen war. Ob damit eine Chance vertan wurde, die drohende Kirchenspaltung in den Griff zu bekommen, muss der Spekulation überlassen werden.
Hinter diesen Gefechten in der hohen Politik stand die Dynamik einer anscheinend unaufhaltbaren religiösen Bewegung, die natürlicherweise auf die Politik zurückwirkte. War die Autorität der Kirche infrage gestellt, dann stand auch die weltliche Ordnung, angesichts der herkömmlichen Verzahnung beider, zur Disposition. Nuntius Chieregati hatte recht gehabt. Es dient zur Erklärung der Durchschlagskraft der lutherischen Bewegung, dass ihre Opposition gegen eine der beiden etablierten Mächte, die Kirche, auch das Kaisertum, obwohl Luther denkbar weit davon entfernt war, es infrage zu stellen, neue Herausforderungen stellte. Karl V. hat sich dieser deutschen Thematik zu Beginn der Reformation überhaupt nicht ernsthaft angenommen; doch so fraglos monarchisch waren damals die Zeiten, dass ihn das keinesfalls das Amt kostete.
In der deutschen Öffentlichkeit hatte seit dem hohen Mittelalter schon immer ein anti-römischer Affekt gewirkt, der nun auch publizistischen Widerhall fand. Da war der fränkische Adlige und Literat Ulrich von Hutten, der humanistische Studien betrieb, den Kaiser Maximilian I. zum poeta laureatus beförderte und dessen wortgewaltiger und gedruckter Widerwille gegen die römische Kirche sich zu nationaler Eindringlichkeit steigerte.
Hutten war froh, in dem Reichsritter Franz von Sickingen einen Gesinnungsgenossen zu finden. Der war zwar ein Feldhauptmann des Kaisers, hatte Luther aber nach dessen Auftritt in Worms zu sich auf seine Ebernburg (bei Bad Kreuznach) eingeladen, um ihn vor allfälliger Gefangennahme zu bewahren. Luther hatte gut daran getan, diese Einladung abzulehnen und sich stattdessen von den Leuten seines Kurfürsten Friedrich entführen zu lassen. Denn Franz von Sickingen gehörte zu dem vielfach frustrierten Stand der Reichsritter: Herren mit geringem Grundbesitz auf ihren Burgen, die sich der Vereinnahmung durch die Staatsgewalt der nachbarlichen Fürsten schlecht und recht erwehrten.
Der Ritterstand sympathisierte nur wenig mit der Reformation. Sickingen aber nahm sie sehr ernst, weshalb Ulrich von Hutten dessen Ebernburg als „Herberge der Gerechtigkeit“ besang. Leopold von Ranke steigert an dieser Stelle seine auch sonst erlesene Prosa: „In der Tat, es wäre kein schlechter Bund gewesen, wenn der Mönch, den die Nation wie einen Propheten verehrte, seinen Wohnsitz bei dem gewaltigen Rittersmann genommen und ihn mit der Macht seines Wortes unterstützt hätte.“ Doch dann: „Aber Luther hatte den großen Sinn, sich von allen politischen Verbindungen fernzuhalten, keine Gewalt versuchen, einzig der Macht der Lehre vertrauen zu wollen.“
Franz von Sickingen scheiterte schnell. Er tat sich mit einem nicht unerheblichen Teil der Reichsritterschaft zusammen und begann, Trier zu belagern, die Residenz des von ihm gehassten „Pfaffen“, des dortigen geistlichen Kurfürsten. Die ritterliche Hilfe kam nicht, Sickingen musste sich auf seine Burg Nanstein zurückziehen, wurde von dem belagernden Fürstenheer zusammengeschossen und kam selbst um (7. Mai 1523).
Es war bedrohlich für die reformatorische Bewegung, dass sich politische und soziale Strömungen auf sie beriefen und damit Luthers Wort von der inneren Freiheit eines Christenmenschen auf die öffentliche Sphäre übertrugen, damit reine Lehre und politische Ordnung zur Übereinstimmung gelangten. Viel elementarer als bei Sickingen machte sich diese Tendenz im großen deutschen Bauernkrieg (1524/25) geltend, der den „gemeinen Mann“, worunter überwiegend die zu den Waffen greifenden Bauern zu verstehen waren, besonders in Schwaben, im Elsass, in Franken und in Thüringen zur Bildung von großen Heerhaufen hinriss.
Im März 1525 kamen in der kleinen Reichsstadt Memmingen, derer sich die Bauern bemächtigt hatten, die „Zwölf Artikel“ heraus, die die bäuerlichen Forderungen übersichtlich bündelten. Der antiklerikale Effekt trat auch hier hervor, da die Bauern neben ihren weltlichen fast noch mehr ihre geistlichen Herren aufforderten, ihnen ihre „alten Rechte“ zurückzugeben, die durch feudale Bedrückung beschnitten worden waren (was schon unter Kaiser Maximilian I. zu regional begrenzten Unruhen geführt hatte). Da hieß es zum Beispiel, dass es „unbrüderlich“ sei „und dem Wort Gottes nicht gemäß, dass der arme Mann nicht Gewalt hat, Wildbret, Geflügel und Fische zu fangen“. Auch: Rückgabe der Wälder an die ursprünglichen Besitzer, die Gemeinden, zur Versorgung mit Bau- und Brennholz, die Frondienste reduzieren „allein nach dem Laut des Wortes Gottes“, die Pachtgebühren verringern, und was an Beschwerden im bäuerlichen Alltag noch sein mochten.
Neu war, dass man sich zur Schaffung neuer Gerechtigkeit ausdrücklich auf das Wort Gottes berief, als auf das ewige Gesetz, das auch in den irdischen Angelegenheiten gelten sollte. Die Anrufung dieser Autorität wäre wohl ohne das Bestehen Luthers auf der Heiligen Schrift als oberster Verbindlichkeit nicht möglich gewesen. So wurde die Abschaffung der Leibeigenschaft gefordert, die „zu Erbarmen“ sei, „angesehen dass uns Christus alle mit seinem kostbarlichen Blutvergießen erlöst und erkauft hat, den Hirten gleich wie den Höchsten, keinen ausgenommen. Darum erfindet sich mit der Schrift, dass wir frei sind und sein wollen.“ Die Gemeinden sollen das Recht haben, ihren Pfarrer frei zu wählen. „Der Pfarrer soll das Evangelium lauter und klar ohne allen menschlichen Zusatz predigen, da in der Schrift steht, dass wir allein durch den wahren Glauben zu Gott kommen können.“
Die oben auszugsweise wiedergegebenen Forderungen waren revolutionär nicht ihres Inhaltes wegen, sondern wegen ihrer Legitimierung durch die Heilige Schrift, wie die Bauern sie eben verstanden. Den Rekurs auf das göttliche Recht hatten schon Wiclif und die Hussiten vertreten. Das verletzte „alte Recht“ war nicht etwa wiederherzustellen, sondern eine neue, die „göttliche“ Gerechtigkeit sollte etabliert werden. Brüderliche Liebe und der „gemeine christliche Nutzen“ waren der Leitstern einer besseren Gesellschaftsordnung, die die Vordenker der bäuerlichen Bewegung anstrebten und die man in ihren Einzelheiten nicht mehr recht aus dem Evangelium herleiten konnte.
Mit der Forderung nach gewählten, redlichen Predigern ging die nach Abschaffung der Klöster und Stifte einher, der Adel sollte seine Privilegien verlieren, wenn auch Grundeigentümer bleiben. In Tirol und Salzburg, wo ebenfalls Unruhen ausgebrochen waren, sollten die Herrschaftsrechte des Adels auf den Erzbischof übergehen, doch war gleichzeitig den Gemeinden und auch den Städten eine kräftige kommunale Autonomie zu gewähren. Es machten auch Vorstellungen die Runde, dass in größeren Territorien ein landständisches Regiment an die Seite des Fürsten treten oder diesen sogar einsetzen sollte, wie im Bistum Bamberg und im Herzogtum Württemberg – eine verfassungsmäßige Aufwertung und Absicherung des „gemeinen Mannes“ also.
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