Er bedauere, daß das Bier schon wieder zur Neige gegangen sei, sagte mein Bruder und machte sich auf, um Nachschub zu organisieren , wie er sagte. Das sei recht so, erwiderte Herr Suppa in den anschwellenden Lärm hinein, denn das Spiel beginne gleich, endlich.
Mein Bruder kehrte zurück, als der Anpfiff zu diesem Spiel, zu dieser heiß erwarteten Schlacht ertönte. Die Spannung war eine erhebliche. Zunächst schrien die Engländer noch einmal kurz auf, nach wenigen Sekunden jedoch verfielen sie in eine konzentrierte, ich möchte fast sagen: eine kindliche, eine kindische Konzentrationshaltung. Sie schwiegen.
Der Ball lief rund durch die deutschen Reihen, das deutsche Mittelfeld machte Druck und drängte die Engländer tief in deren Hälfte hinein. Deisler, Ballack und so weiter. Es war das Selbstverständlichste, daß Jancker, dieser Stürmer, der gar kein Fußballspieler sei, wie ich mich erinnerte, zum 1:0 einschob, die Kugel ins Netz des englischen Keepers drosch, dessen Name mir zu unbedeutend erscheint, um ihn nennen zu müssen.
Ich sprang auf, rannte um den Biertisch herum und sank vor dem Fernseher auf die Knie, die Fäuste nach oben gestreckt. Ich rief einige kurze Sätze der Begeisterung, warf den jungen und den alten Engländern einen Blick der Freude zu und begab mich zurück an den Biertisch.
Es war ein schönes Tor, und es war ein Tor gegen England. England schwieg noch mehr. Dieses England hier in Belgien war ein einziges vielgesichtiges, entsetztes Häuflein Elend. Nun, wie konnte ich wissen , wie konnte ich ahnen , daß dies unser, mein Waterloo werden sollte. Nein, das konnte ich nicht. Kein Mensch konnte auch nur ahnen, was bald im Münchner Olympiastadion, in der Arena des Weltmeisters und Weltpokalsiegers, geschehen sollte, daß die höchste Niederlage seit siebzig Jahren zu gewahren sein würde, seit dem 0:6 1931 gegen Österreich.
Nein, nicht irgendeine Niederlage. Die höchste Niederlage seit siebzig Jahren. Vor allem seit dem großen Sieg der deutschen Elf 1954 im WM-Endspiel hatte es ein solches Debakel nicht mehr gegeben, ein Debakel nicht gegen Brasilien, Frankreich, Holland, was weiß ich, ein Debakel gegen England! Gegen England und auf eigenem Platz, zu Hause , so unterzugehen, das konnte niemand voraussehen. Wenn wir hier weniger als fünf Stück kriegen, haben wir ein erstklassiges Resultat erzielt , hatte Netzer 1972 zu Beckenbauer gesagt, vor dem Spiel in der Kabine des Wembley-Stadions. Bei uns herrscht die bitterste Stimmung, die ich je erlebt habe , sagte der geduschte Wörns nach dem Spiel. Jetzt müssen wir auch mal die Schattenseiten durchleben , sagte Bierhoff. Owen sagte: 5:1. Ich meine: 5:1! Vor dem Spiel habe ich mich gar nicht getraut zu sagen, wir gewinnen hier. Und jetzt: 5:1.
Es war eine ganz und gar unvorhersehbare Katastrophe. Die frohe Zeit endete für meinen Bruder, Herrn Suppa und mich fünf Minuten nach Jancker. Es wird einmal eine neue Zeitrechnung geben: fünf Minuten nach Jancker . Owen knallte zum Ausgleich ein. Owen exekutierte. Man spürte es. Man spürte augenblicklich die lähmende Ausweglosigkeit, die spätestens in der 23. Minute allzu deutlich, für alle Augen deutlich sichtbar, besonders für die englischen Augen deutlich und klar sichtbar, das deutsche Spiel, dieses Spiel voller unermeßlicher Unfähigkeit, ergriff, als Deisler schmählich versagte und völlig frei aus sieben Metern verzog. England raubte uns den Atem, England spielte Katz und Maus mit uns, warf Deutschland erst spielerisch hin und her, ließ es laufen , zeigte mal Krallen, tatzelte mal, und dann schlug England zu, biß zu, im brutalsten Sinne des Wortes, vor der Halbzeit durch Gerrard, kurz nach der Pause durch Owen, diesen Owen .
Die Pause war die fürchterlichste. Eine atemraubend lange Pause, in der die Engländer sich weiter eintranken und gewissermaßen aufrüsteten für den finalen Knockout. England, dachte ich, England aussperren, einfach ausschließen aus der WM-Qualifikation! Jetzt, ohne Federlesens, einfach so, Punkt, Ende.
Sie rollten wieder an, von links nach rechts nun, ein Angriffswirbel nach dem anderen prallte auf die deutsche Abwehr. Der Hochgeschwindigkeitsfußball der Briten war der erbarmungsloseste, und nach dem 1:3, wir sangen schon davon klagend bitterlich, brachen alle Dämme.
Ein trockener, ein sogenannter humorloser Schuß . Owen terrorisierte die deutsche Abwehr mit seinen Sprints. Owen rannte einfach los, drauf auf die Recken, schlug Haken, tunnelte, riß Löcher in die Deckung, erbarmungslos, riß die Flanken auf und flankte, schoß, zog ab, versenkte. Owen demontierte das deutsche Team, er machte Deutschland lächerlich . Und nicht nur Owen, der kleine, junge Owen. Beckham, Scholes, Heskey. Sven-Göran Eriksson, dieser eiskalte schwedische Coach der englischen Mannschaft, hatte sein Team, das Team Englands , auf die kälteste, die eisigste Weise eingestellt. Er hatte diese junge, unerfahrene, nicht ernst zu nehmende Truppe zu einer fehlerfrei aufspielenden, eiskalten Killertruppe gemacht, die ihren Gegner ohne Erbarmen abschoß .
England, o England, Eeeengland! sang das Zelt, das Zelt kochte, das Zelt brodelte, das Zelt schäumte. Chöre schwollen an und ab, in einem endlosen Getöse brüllten und bellten und grölten die Männer von der Insel. Gesangswogen brandeten heran, Brecher schlugen über unseren Köpfen zusammen, Becher flogen hinterdrein. Fuck you! Fuck you! spießte das Zelt jeden Spieler des Gegners auf, der sich zu wehren versuchte.
Herr Suppa zog seine Schirmmütze noch tiefer ins Gesicht, mein Bruder kauerte auf der Bank. Ich stand auf und wollte mich erleichtern, da prasselten Verwünschungen und Flüche auf mich ein, auf einen, der es gewagt hatte, sich in voller Größe zu zeigen, Asshole! Son of a bitch! Fuck you! Piss off! und diese Dinge. Ich fürchtete um mein Leben, ganz ernsthaft fürchtete ich um mein kleines Leben. Es war die Entfesselung des Allerfürchterlichsten. Wir waren umzingelt von dem entsetzlichsten Mob, von einem zu allem bereiten Pöbel, von einem gefräßigen Monstrum an Brutalität und Barbarei.
Ich setzte mich wieder, und ein Beifallssturm begleitete diese Bewegung, ein Zeichen der infamen Berauschung an der eigenen Macht, an der Stärke und am Bedrohungspotential, das der Engländer, dieser exzentrische Mensch par excellence, so auskostete. Nicht noch eins, nicht noch eins , wisperte mein Bruder, ich hörte gar nicht mehr richtig hin. Wir waren in die schlimmste Enge getrieben, real, körperlich , und wir waren in der beklemmendsten Bewußtseinsenge, nämlich Angst , gefangen.
Ich entschloß mich, wenn man hier noch von einem Entschluß reden kann, unter diesen Bedingungen, in dieser Hölle, in diesem dampfenden, bollernden, spritzenden, spuckenden, geifernden Glutofen des Wahns, ich entschloß mich zur Flucht. Es war die 66. Minute, das 1:4 durch Owen war gefallen, ich sammelte die letzten Kräfte, klaubte die letzten Krümel Mut zusammen, erhob mich und hechtete zur Seite, erreichte kriechend die Zeltplane, hob sie an, so gut es ging, Becher flogen und vielleicht Kieselsteine vom Boden, auf dem dieses Zelt der Zerberusse, der Höllenhunde , errichtet worden war, und quetschte mich wälzend und zitternd durch den engen Spalt, während, wie ich noch aus dem Augenwinkel erkennen konnte, die hinteren Spaliere in noch bedrohlichere Bewegung gerieten und begannen, sich nach vorne zu schieben.
Es war mein Heysel. Es war nicht nur mein Heysel, es war auch mein Córdoba. Es war mein Heysel-Córdoba, mein Córdoba-Heysel, könnte man sagen. Ich hörte, schnaufend und tief durchatmend, die englischen Fans schreien und jubeln. Durch die Zeltplane zeichneten sie sich schemenhaft ab, die Verbände und Berge der feiernden und zechenden und zum Äußersten neigenden Engländer.
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