Die Vorberichte begannen. Rechts von uns gruppierte sich ein Haufen sehr junger englischer Burschen um immer wieder frisch herangeschleppte Biertabletts. Sie johlten beim Anblick alter Bilder im Fernseher, kreischten, kaum älter als achtzehn oder allerhöchstens einundzwanzig, bei Hursts drittem Tor, brüllten jämmerlich klagend bei Terry Butchers verschossenem 1990er Halbfinalelfmeter. Sie hoben ihre Plastikbecher, in denen das belgische Bier schwappte, und schrien und zeterten bei jeder Einblendung aus diesen alten Tagen. Sie krieg ten sich sozusagen gar nicht mehr ein . Sie waren schon, bevor das eigentliche Spiel begann, außer Rand und Band. Sie gossen randvolle Plastikbecher des belgischen Bieres, das dauernd auf neuen Tabletts herankam, in ihre Hälse, und wenn sie das Bier heruntergeschluckt hatten, schrien sie wieder, aus vollem Hals, nein, nun natürlich aus leerem Hals, aus einem geleerten Hals, der bei jedem von ihnen naturgemäß in dieser Situation allerdings ein nur für die allerkürzeste Zeit geleerter Hals war.
Im Fernsehstudio saßen um den Fernsehmann Delling, den Moderator , herum mehrere alte, moderate Herren. Zum einen war da Hurst, der sich sehr diplomatisch über sein Tor äußerte, das dritte Tor, das ja schon damals bereits das fünfte Tor gewesen war, aber wir sprechen noch heute wie selbstverständlich fälschlicherweise von einem dritten, von dem dritten Tor , und Beckenbauer nickte und sprach aus seiner Sicht über das in Gottes Namen dritte Tor. Das gleiche tat Seeler. Seeler sprach über das dritte Tor. Während er sprach, wurde die Szene wieder eingespielt. Die jungen Engländer schrien sogleich begeistert auf. Sie sprangen in die Höhe, jubelten und begannen zu singen. Aus dem Hintergrund des Zeltes drangen weitere Gesänge, rauher und härter und gewissermaßen schneidiger, feuriger, nach vorne an unseren Biertisch, der nun schon ein gesanglich und menschlich vollkommen englisch eingekreister Flecken, eine Oase war.
Herr Suppa hob einen frischen Plastikbecher Bier, als das Programm umgeschaltet wurde. Nun sah man das englische Fernsehstudio, ich glaube, es war der Sender BBC . Dort hatten sich um einen ausgesprochen häßlich geformten Tisch und vor einer abstoßenden Kulisse drei Herren versammelt, ein Moderator und zwei sogenannte Experten, aus denen vor allem Gary Lineker hervorstach, dieser Mann, der einmal in die Welt gesetzt hatte, Fußball sei ein Spiel für zweiundzwanzig Leute, und am Ende gewinne immer Deutschland.
Die BBC zeigte ebenfalls Spielszenen, die BBC zeigte aber nicht das Halbfinalelfmeterschießen von 1990. Man hatte sich seitens BBC offenkundig dafür entschieden, weder das 1990er Halbfinale noch das 1970er Viertelfinale der englischen Mannschaft gegen das deutsche Team zu zeigen. Noch offenkundiger war die Tatsache, daß man gleichfalls das 1:3 aus dem Jahr 1972 nicht vorführen wollte. Im deutschen Programm hatte man es eben noch gesehen, und Netzer hatte ein paar wohlgeformte Sätze über diesen historischen Sieg auf der Insel gesagt, den ersten Sieg einer Mannschaft auf der Insel überhaupt seit Jahrzehnten . Statt dessen zeigte BBC naturgemäß ausschließlich Niederlagen der deutschen Mannschaft oder solche Spiele, die gegen sogenannte Fußballzwerge während der Qualifikation fast verloren worden waren oder knapp, mit äußersten Mühen hatten gewonnen werden können. Nach diesen Spielausschnitten kommentierte und analysierte Lineker das Auftreten der deutschen Mannschaft, und nach jedem Satz jubelte das Fernsehzelt, in dem wir hier saßen, frenetisch, ja, frenetisch, so sagt man.
Erbarmungslos, trocken deckte Lineker die Schwächen auf. Er entblößte die Deutschen sozusagen. Er nahm kein Blatt vor den Mund, sondern spottete, verschmitzt lächelnd, richtiggehend gemein lächelnd und bisweilen scheppernd auflachend , und veralberte die tapsigen, ungelenken deutschen Abwehrspieler und die schwerfälligen Sturmtanks , vor allem Jancker. Jancker sei gar kein Fußballspieler, Jancker sei eine Art Panzer, hörte man ihn sagen, und an dieses Statement schloß sich augenblicklich ein Hoihoihoi! oder etwas ähnliches an.
Etwas belustigt schaute Herr Suppa zu den jungen Engländern hin, ja, er drehte sich sogar einmal um und betrachtete die mittlerweile zu hautengen Reihen zusammengeschlossene und -gepreßte Horde rotgesichtiger Briten in weißen, stellenweise feuchten, fast nassen T-Shirts. Manche trugen am Oberkörper auch einfach gar nichts. Es fehlte noch, sagte mein Bruder, daß sie die Hosen runterließen, und er nahm einen kräftigen Schluck Bier, ich folgte ihm darin.
Einen Tag zuvor, so meldete jetzt wieder das deutsche Programm, irgend jemand hatte umgeschaltet, einen Tag vor dem 1. September hatten in meiner Stadt, in Frankfurt am Main, etwa einhundertfünfzig oder sogar zweihundert sogenannte englische Fußballanhänger , sogenannte Fans , sogenannte Hooligans einen Angriff auf meine Stadt gestartet und die Innenstadt beinahe vollständig verwüstet. Wie als ob ich einen Zusammenhang erahnte oder beinahe bereits erkannte, erinnerte ich mich auch wieder an diese fürchterliche Katastrophe im Brüsseler Heysel-Stadion, diese damals, am 29. Mai 1985, für fast vierzig Menschen tödliche und verheerende Europapokalendspielveranstaltung in Brüssel, in einer Stadt, in der ich damals lebte und in der ich, zu Hause vor dem Fernseher sitzend, die besagte höhnische Beleidigung und Herabsetzung durch den Arbeitskollegen meines Vaters hatte erleiden und erdulden müssen. Damals, in Brüssel, hatten englische Fußballanhänger eine gewaltige Schlägerei angezettelt, die in eine entsetzliche Gewaltorgie ausgeartet war, und nachdem die Toten geborgen waren, sperrte die Europäische Fußball-Union die englischen Klubmannschaften auf Jahre hinaus aus, ja, sie sperrte die gesamte Insel, ganz England , aus Europa, dem Europa des Fußballs, aus.
Belgien, England, so dämmerte mir hier in diesem belgischen Fernsehzelt unter und zwischen englischen Fußballfans, Belgien und England, hier besteht eine Verbindung, ein Zusammenhang zumal. Herr Suppa ahnte von all diesen größeren und gefährlichen Zusammenhängen nichts, er konnte nichts ahnen, er war gewissermaßen ahnungslos , vollkommen ahnungslos wie ein Kind, naiv, froh und ohne Arg, er hegte keinerlei Verdacht gegen diese hier in der erdrückendsten Überzahl aufhältigen Engländer. In völliger Ahnungslosigkeit trank Herr Suppa sein Bier und schüttete kraftvoll weitere Biere in sich hinein, denn diese Vorberichte dauerten schon sehr lang, so Suppa. Mein Bruder und ich taten es ihm gleich. In absoluter Friedfertigkeit tranken wir eine Fuhre Bier nach der anderen. Um an diese Bierfuhren heranzukommen, mußte jedoch in immer kürzer werdenden Abständen einer von uns drei biertrinkenden Gästen in diesem Fernsehzelt zum Ausschank, zum Tresen gehen. Dies war kein Gehen, es war ein Drücken, Schlängeln, ein Schieben, Stoßen und Schubsen, es war ein erster Vorgeschmack auf den Spießrutenlauf .
Wieder zurück an unserem Biertisch, glücklich und heil wieder an diesen Biertisch gelangt, meldete der Fernseher eine weitere Eskalation. Sogenannte Ausschreitungen hätten München, den Austragungsort der WM-Qualifikations begegnung Deutschland – England, erschüttert, zu schlimmen Vorfällen sei es gekommen, weil sich ein Großaufgebot an englischen Fußballfans, wie es hieß, die Hucke hatte vollaufen lassen. Immer wieder Prügeleien habe es gegeben, und man hoffe doch sehr, lautete es jetzt aus dem Fernseher, daß solche fürchterlichen Vorfälle beim Spiel ausblieben, mit Fußball habe das nichts zu tun, das sei hier immer noch ein Fußballspiel . Es seien die Unverbesserlichen , die sogenannten Fans , die dem Fußball schadeten. Man bedauere das zutiefst.
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