Örjan Persson
Die Rettung des grauen Ponys
Deutsch von Angelika Kutsch
Saga
Plötzlich war es ganz still in der Klasse. Malin wand sich langsam in die richtige Haltung. Sie hatte halb heruntergerutscht auf dem Stuhl gesessen, den einen Ellenbogen auf den Tisch gestützt, den anderen locker überm Stuhlrücken. So saß sie eigentlich immer. Den Ahorn vorm Fenster betrachten, der ist so schön. Hoch und mächtig wölbte er seine Krone über den Schaukeln und hölzernen Klettergerüsten, auf denen die Schüler aus den unteren Klassen unermüdlich schaukelten und kletterten, Pause für Pause.
Es war verboten, im Ahorn herumzuklettern, denn die Schulleitung befürchtete einerseits, der Baum würde ruiniert, und andererseits, die Kinder könnten sich verletzen, wenn sie aus gefährlicher Höhe herunterfielen. Früher hatte Malin sich über das Kletterverbot geärgert, aber jetzt war sie froh darüber, denn sie konnte die Baumkrone betrachten, ohne daß ein Haufen Kinder da oben herumhingen und schrien. Heute waren nicht mehr viele von den Blättern da, die noch vor einigen Wochen rot und golden geleuchtet hatten. Aber Malin folgte gern der Form der Stämme von der Erde aufwärts hinauf zu den Zweigen, die sich in den Himmel, den Raum, die Freiheit reckten.
Sie riß den Blick von ihrem geliebten Baum los, um nachzuschauen, was in der Klasse vor sich ging.
Wie blaß hier drinnen alles war! Bläuliches Leuchtröhrenlicht gegen beigefarbene Wände und auf schmutziggrauem Boden. Trist! Trist! Trist!
Malin saß ganz vorn links, genau vorm Pult. Nachdem sie sich zurechtgesetzt hatte, sah sie die Schwedischlehrerin an, die sie eben angesprochen hatte. Das Gesicht der Lappenlisa, so nannten sie die Lehrerin, leuchtete wie eine reife Tomate im Treibhaus vor dem Hintergrund der grünen Tafel. Malin konnte sich das Lachen nicht verkneifen, als ihr der Vergleich mit der Tomate einfiel. Was für ein Bild, dachte sie, schade, daß ich keine Kamera habe!
„Hör auf zu lachen und nimm die Tüte weg!“ rief die Lehrerin. Sie stand so nah, daß Malin einen Speichelspritzer auf der Wange abbekam. „Nimm die Tüte weg, sonst gehst du raus!“
„Die gehört mir nicht!“ sagte Malin mit erzwungener Beherrschung. Nur Carina, die rechts von ihr am nächsten saß, bemerkte, daß ihre Hände zitterten, als sie die Tüte vom Tisch nahm und auf die Knie legte.
Aus einer der hintersten Reihen kam ein Kichern. Das Kichern verbreitete sich rasch noch vorn und ging bald in unterdrücktes Gelächter hinter vorgehaltenen Händen über.
„Die Tüte gehört mir nicht!“ wiederholte Malin.
„Du lügst! Das werd ich dem Direktor sagen, verlaß dich drauf, du! Daß es in dieser Klasse nicht möglich ist, Ordnung zu halten! Ihr redet während des Unterrichts, sitzt träge da, beteiligt euch nicht am Unterricht und seid aufmüpfig!“
Lappenlisa starrte Malin, die sich unwillkürlich zusammenduckte, entrüstet an.
„Ich lüge nicht!“ protestierte Malin beleidigt.
„Wer hat eine leere Bonbontüte auf Malins Tisch gelegt?“ Lappenlisa ließ ihren Blick über die Klasse schweifen, die jetzt still und unschuldig dasaß. „Niemand also! Jetzt gehe ich zum Direktor! Das lasse ich mir nicht gefallen!“ Die kleine, etwas dickliche Frau entfernte sich mit raschen Schritten zur Tür. Als das wütende Geklapper ihrer Holzschuhe erstarb, atmete die Klasse 8 C auf.
Malin spürte eine Hand auf ihrer Schulter.
„He, Malin!“ Es war Peter, der hinter ihr saß. „Toll, daß du die Alte rausgeekelt hast!“
„Gut, Malin! Spitze!“ Lob von allen Seiten.
„Wem gehört die Tüte?“ Malin bückte sich, sie hob den Gegenstand der Verärgerung auf und hielt ihn zur allgemeinen Betrachtung hoch.
„Das ist Sussis!“
„Ist sie nicht!“
„Ist sie doch! Ich hab gesehen, daß du in der Pause eine Tüte hattest. Also gib’s zu!“
„Ich hab’s auch gesehen. Wirklich gemein von dir, es nicht zuzugeben.“
Bei soviel geschlossener Einigkeit konnte Sussi nicht anders, sie mußte es zugeben. „Also, ich hab sie eben verloren“, sie zuckte die Schultern. „Das ist doch nicht so schlimm.“
„Ach, es macht nichts“, sagte Malin. „Die Lappenlisa kann mich so oder so nicht leiden. Sie kriegt schon die Wut, wenn sie mich nur sieht.“
„Da bist du nicht allein“, tröstete Peter. „Sie mag niemanden von uns. Auch in den anderen Klassen nicht.“
„Aber Malin hat sie am meisten auf dem Kieker“, sagte Carina. „Auf ihr hackt sie dauernd rum.“
„Hasse kommt!“
Innerhalb weniger Sekunden war die Ordnung wieder hergestellt. Nur ein paar Papierknäuel und zerschnittene Radiergummis sowie eine pornographische Zeichnung an der grünen Tafel zeugten von der Abwesenheit der Lehrerin.
Das anklagende Quietschen der Kreppsohlen des Direktors näherte sich schnell, und gleich darauf trat er ein, Hasse Ivarsson, und schloß die Tür hinter sich. Er stellte sich ans Pult und schaute über die ordentliche Klasse.
„Elisabet Fjällberg hat ernste Anschuldigungen gegen euch vorgebracht“, sagte er. „Ihr scheint euch in den Kopf gesetzt zu haben, ihr den letzten Nerv zu töten!“
„Schlimmer als in anderen Klassen ist es bestimmt nicht“, protestierte Carina. „Übrigens ist sie selbst schuld, nur in ihren Stunden gibt es Ärger.“
„Sie sagt aber, bei euch ist es am schlimmsten“, sagte der Direktor. „Na, sie ist jedenfalls nach Hause gegangen.“
„Jippiii!“ rief Anders von hinten.
Hasse Ivarsson warf ihm einen forschenden Blick zu.
„Na ja, sie ist wirklich verdammt anstrengend“, antwortete Anders auf die unausgesprochene Frage.
„Lest die Seiten 36 und 37 im Schwedischbuch“, sagte Hasse. „Ich hab keine Zeit, bei euch zu bleiben. Und haltet den Geräuschpegel in Grenzen. Denkt daran, daß ihr nicht allein im Haus seid.“
Er ließ die Tür offenstehen und quietschte auf seinen Kreppsohlen zum Sekretariat. In der Klasse brach Gemurmel los.
Walkman, Kaugummipakete, Zeitschriften mit Postern von Fußballmannschaften und Fotomodels tauchten aus den Taschen auf. Einige aus der Klasse verschwanden. Sie hatten Durst oder mußten zum Klo oder genossen nur allgemein die Möglichkeit, das zu tun, was sie wollten, da kein Lehrer sie daran hindern konnte.
Malin sank zurück in ihre gewohnte Haltung. Für einen Außenstehenden sah das unbequem aus, schräg auf einem normalen Schulklassenstuhl halb zu liegen, aber Malin war das so gewohnt und fühlte sich wohl. Wenn sie so dasaß, konnte sie von der Schule abschalten. Sie schaute hinaus zu ihrem Baum. Am liebsten hätte sie auf einem der obersten Äste gesessen. Hier drinnen war sie eingeschlossen, und die Luft war so stickig.
Malin hatte den Herbst gern. Besonders die klaren, sonnigen Tage, wenn es morgens kalt war und sie von ihrem Schlafzimmerfenster die Berge sehen konnte. Mehrmals in der Woche stand sie früh auf, vor sechs. Das Aufstehen selbst, sich von der kuschligen Bettwärme loszureißen und duschen zu gehen, war fast unerträglich. Aber an einem ruhigen, klaren Septembermorgen hinauszukommen, wenn noch niemand anders wach ist, belohnte sie für die Mühe. Natürlich regnete es manchmal, oder von Westen pfiff ein scharfer Wind, der auch durch die dickste Jacke drang.
Malin stand so früh auf, weil sie an mehreren Tagen der Woche die Pferde in Elofssons Stall fütterte.
Elofssons Stall war einige Kilometer von dem Dorf entfernt, in dem Malin wohnte. Gustav Elofsson war ein alter Junggeselle, der ein paar Traber hielt, die Halbblutstute Sara und das Welsh Pony Amie. Er hatte den früheren Kuhstall umgebaut, und außer seinen eigenen Pferden vermietete er sechs Boxen für Reitpferde, deren Besitzer im Dorf wohnten.
Im Preis, den die Mieter zahlten, waren das Futter und die morgendliche Versorgung enthalten. Aber damit er sich nicht um die Arbeit im Stall kümmern mußte, hatte Elofsson die Morgenfütterung mit Hilfe einiger Mädchen, die verrückt nach Pferden waren, organisiert. Und eins dieser Pferdemädchen war Malin. Dafür, daß die Mädchen Sara und Amie reiten durften, standen sie morgens abwechselnd sehr früh auf. Sie fuhren mit dem Fahrrad zum Stall oder gingen zu Fuß, wenn Winter war und sich keiner der Eltern erbarmte und sie hinbrachte. Sie versorgten die Pferde und brachten sie hinaus auf ihre Weideplätze, außer im strengen Winter.
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