Örjan Persson
The Great World Game
Ein Cyber-Roman
Aus dem Schwedischen von
Regine Elsässer
Saga
Die einzigen Geräusche im Zimmer waren das leise Klicken der Maus und ein Rauschen vom Computer. Foxie lag neben Tobias’ Füßen und seufzte hin und wieder im Schlaf.
Es war ein dunkler Novemberabend, es schneite ununterbrochen und Tobias hätte eigentlich für die Mathearbeit am nächsten Tag lernen sollen. Das erste Halbjahr in der Neunten war für ihn nicht so prima gelaufen. Deshalb saß er mit schlechtem Gewissen vor dem Computer und surfte ein bisschen durchs Netz.
Er hatte gerade beschlossen, den Computer auszumachen und das Mathebuch herauszuholen, als es passierte. Ein paar Worte in riesiger, schwarzer Schrift bedeckten den Bildschirm: The Great World Game.
»Das große Weltspiel«, übersetzte Tobias. Ein Gratis-online-Spiel. Das war spannend. Er klickte sich ein. Aus den Lautsprechern kam ein leises Rauschen, wie wenn der Wind an einem dunklen Herbstabend durch die Bäume fährt, dann wurde der Bildschirm pechschwarz.
Plötzlich blitzte ihn ein weißer Text an: Danger!
Gefährlich. Aha. Was war denn gefährlich?
This is a Virtual Reality Game , stand als nächste Textzeile da.
Prima, dachte Tobias, da kann ich endlich die 3D-Maus einsetzen. Foxie war aufgestanden und knurrte den Bildschirm drohend an. Tobias spürte, wie es ihm kalt den Rücken hinunterlief und die Härchen an den Unterarmen sich aufstellten. Er befahl Foxie, still zu sein, und klickte mit gespannter Erregung auf das yes am unteren Rand. Ja, er war bereit. Es war richtig spannend!
Es dauerte eine Weile, bis etwas geschah. Tobias saß da und starrte konzentriert auf den leeren Bildschirm.
Allmählich baute sich ein Bild auf. Er befand sich in einem großen Raum mit Steinwänden. Tobias drehte sich um, und da das Spiel dreidimensional war, konnte er in alle Richtungen gehen. Kahle Wände. Worum es bei dem Spiel wohl ging?
Ammo 100%, Health 100%, Armor 100%.
Dann hielt er plötzlich eine Waffe in der Hand und hatte einen Helm auf und eine schusssichere Weste an. Ach so, diese Art von Szenario war ihm nur zu bekannt! Ein kleiner Lichtpunkt am Boden erregte sein Interesse, er ging hin und drückte auf die grüne Lampe. Eine schwere Steintür öffnete sich und vor ihm stand ein dunkelhaariger Soldat, der mit einem Maschinengewehr auf ihn zielte. Tobias gab rasch ein paar Schüsse ab und der Soldat sank stöhnend auf den Steinboden.
Ein typisches Shoot ‘em up-Game. Solche Spiele hatte Tobias schon unzählige Male gespielt, und er wusste genau, was er tun musste, um zu gewinnen. Man musste sich nur schnell und exakt durch das Fort schießen. Danach würde er Mathe lernen.
Die Grafik war erstaunlich gut gemacht und deutlich, das Blut, das dem toten Soldaten aus der Brust pumpte, war eklig lebensecht. Tobias ging weiter in den nächsten Raum. Aus einer Ecke stürzte sich ein großes, schwarzes Monstertier auf ihn. Er zielte und feuerte eine Salve ab. Scheiße! Er hatte daneben getroffen und das Tier warf ihn um. Auf dem Boden liegend, konnte er schließlich den Angreifer mit Blei abfüllen. Aber Tobias hatte 20% seines Health verloren und sehr viel Ammo , der Helm war ihm vom Kopf gefallen und rollte irgendwo in eine dunkle Ecke davon. Tobias stieg über das gefallene Untier. Er war überrascht, wie realistisch das Spiel war, er hatte das Gefühl, als würde er wirklich mit einer Waffe in der Hand dastehen.
Dann schaute er sich in dem neuen Raum um. Er sah genauso aus wie der erste. Vorsichtig suchte Tobias die Wände ab. Wo war die nächste Tür? Ja, da war ein Knopf. Er drückte ihn und stellte sich auf, bereit, alles zu töten, was sich bewegte. Ein Tor öffnete sich. Zwei Soldaten in den gleichen Uniformen wie der erste tauchten hinter einer Steinmauer auf und schossen auf ihn. Er erwiderte das Feuer und machte sie beide unschädlich.
Aber war es denn kein Internetspiel? Die Soldaten, denen er begegnet war, schienen zum Fort zu gehören. Irgendetwas an diesem Spiel war merkwürdig.
»Machst du einen Lärm«, sagte plötzlich eine Stimme hinter ihm. »Kannst du bitte die Lautstärke ein bisschen runterdrehen?«
Sune, Tobias’ Vater, war ins Zimmer gekommen.
»No problem, Daddy«, sagte Tobias und drehte leiser.
»Hast du deine Hausaufgaben gemacht?«
»Alles unter Kontrolle. Ich habe ein saugutes Spiel aus dem Netz eingefangen. Es heißt ›The Great World Game‹. Ich spiele es nur noch zu Ende, dann lerne ich.«
»Ist gut. Gute Nacht.«
»Gute Nacht.«
Sune ging zurück ins Wohnzimmer und sagte zu seiner Frau, dass er sich um Tobias ein wenig Sorgen mache. »Dieser Apparat schluckt ihn förmlich auf. Ich bereue fast, dass wir ihn gekauft haben.«
»Ich auch«, sagte Katarina. »Es scheint das Einzige zu sein, was ihn zurzeit interessiert. Aber ich denke, wir müssen einfach abwarten, irgendwann hat er auch wieder genug davon.«
Tobias war inzwischen im fünften Raum, hatte aber nur noch 60% Health . Wie viele Zimmer waren es wohl noch? Er musste sehr aufpassen, wenn er das Spiel gewinnen wollte.
Er öffnete die nächste Tür und stellte fest, dass er schon auf der anderen Seite des Forts war. Dort gab es viele Menschen. Sie hatten Feuer angezündet, um die Dunkelheit zu erhellen. Manche kamen mit verletzten, blutenden Menschen auf Bahren, manche schrien und heulten laut. Tobias erkannte den ersten Soldaten, den er getötet hatte, er lag auf einer Bahre und hatte einen blutigen Stofffetzen über der offenen Wunde in der Brust. Mausetot. Aber andere waren noch am Leben und jammerten laut. Die Sanitäter liefen barfuß zu den improvisierten Operationstischen.
Plötzlich schrie eine Frau und zeigte aufgeregt auf ihn. Sie redete in einer Sprache, die Tobias nicht verstand.
Dann brachen die Aktivitäten auf dem trockenen Sandplatz vor der Festung unvermittelt ab und die Menschen starrten ihn mit hasserfüllten Augen an.
Tobias drehte sich um und schaute in die Richtung, aus der er gekommen war. Es war wohl das Beste, den Rückzug anzutreten. Aber die Pforte hatte sich geschlossen, er stand auf einem schmalen Absatz vor der Wand, drei Meter über der Erde.
Die Leute unten näherten sich bedrohlich. Er zielte und schoss. Aber das Magazin war leer. Um der allergrößten Gefahr zu entgehen, warf er die Waffe gegen den ihm am nächsten Stehenden, einen kräftigen Mann in Uniform, der sich duckte und deshalb nicht getroffen wurde.
0% Ammo.
Tobias griff mit den Fingern in die steinerne Mauer über sich, fand jedoch keinen Halt. Er musste hinauf, weg von der Menschenmenge, sie würden ihn nicht entkommen lassen. Er zwängte sich aus der schweren, unbequemen Bleiweste. Mit der würde er niemals klettern können. Endlich fanden seine Finger Halt in den Ritzen zwischen den großen Steinblöcken der Mauer. Mit einer Kraft, die weit über den mageren 60% lag, die er gerade noch gehabt hatte, zog er sich nach oben, stieß mit seinem Fuß auf einen kleinen Vorsprung und war außer Reichweite der Menschen unter ihm. Aber warum trugen sie keine Waffen? Es wäre ein Leichtes gewesen, ihm eine Kugel zu verpassen, wie er da wehrlos an der Wand hing, er hatte ja überhaupt kein Armor mehr.
Als ob jemand seine Gedanken gelesen hätte, sauste ein Pfeil an seinem rechten Ohr vorbei und blieb in einer Ritze zwischen den Steinen neben seinem Kopf stecken. Die Soldaten in der Festung hatten doch Gewehre gehabt? Wenn er nur den kleinen Absatz einen Meter weiter rechts erreichen würde, wäre er vielleicht gerettet. Jedenfalls für den Moment. Ein weiterer Pfeil traf einen Stein und zersplitterte. Tobias packte den Schaft des ersten Pfeils, der sich tief in die Ritze gebohrt hatte, und für den Bruchteil einer Sekunde dachte er darüber nach, was passiert wäre, hätte er sein Ziel getroffen.
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