Es ist ihnen wurscht, was andere davon halten, und, das ist das Tolle, den anderen ist es auch völlig wurscht, was die so tragen. Mögen die Hintergründe, die die Menschen hier zu dieser entspannten Einstellung gebracht haben, auch fragwürdig sein – ist es im Ergebnis denn nicht eine wunderbare Vision? Gibt uns der Wedding nicht eine kleine Vorstellung davon, wie eine bessere Welt aussehen könnte? Sicherlich, keine schönere – aber eben eine bessere?
Angela Merkel, vermutlich wissen Sie gar nichts von diesem Viertel, das nur ein paar Minuten von ihrem Wohnsitz und Arbeitsplatz entfernt ist. Kommen Sie doch mal vorbei. Sie können getrost Ihre Bodyguards zu Hause lassen, hier erkennt Sie ohnehin niemand. Freien Wohnraum gibt es genug, Sie könnten einfach einziehen, entspannt hier leben und ausgehen, ganz wie Sie mögen. Mit Ihrer berühmten Topffrisur, die so vielen drittklassigen Kabarettisten und Satirikern lange Jahre Inhalts- und Brotlieferant Nr. 1 war, Sie müssten nicht mehr diesen aufdringlichen, schmierigen, promigeilen Haarschnitzer an sich heranlassen, denn hier gibt es an jeder Ecke ein »cut & go« für nur 10 Euro, und wenn Sie wirklich mögen, könnten Sie Ausschnitt bis zum Bauchnabel zeigen, oder gleich am Plötzensee nackt baden, so wie damals, in Ihrer Uckermark. Sie könnten in dem Abendkleid, das Sie bei dieser Oper in Oslo trugen und das wochenlang die Medien der Republik beschäftigte, beim Imbiss zur Mittelpromenade in der Schlange stehen oder sich beim Lidl ins Dekolleté filmen lassen – niemand würde auch nur aufmerken.
Liebe Frau Merkel, ich weiß, das ist nur eine Idee, ein Hirngespinst. Aber kleiden und frisieren Sie sich doch weiterhin bitte so, wie Sie es mögen, und ignorieren Sie im Rahmen Ihrer Möglichkeiten das Geraune und Gejohle drum herum. Und wenn Sie dann wirklich mal kurz eine kurze Verschnaufpause brauchen von diesen lächerlichen Debatten, den hochnotpeinlichen Kommentaren, den voyeuristischen Wichtigtuern, kurzum: diesen ganzen Vollspacken der Regenbogenpresse von Spiegel bis Bild, dann schmeißen Sie sich einfach Ihr liebstes Abendkleid über oder Ihren bequemsten Bademantel, ziehen Sie sich hochhackige Lederstiefel bis zum Arsch an oder Ihre Adiletten, und kommen Sie zu uns gefahren, es sind bis zum U-Bahnhof Seestraße nur sechs Stationen mit der U6, das ist diese Linie in der Farbe Ihres Oslo-Kleides, und dann trinken Sie hier einen Kaffee oder essen einen Döner, ganz wie Sie wollen – es interessiert hier keine Sau.
Herzliche Grüße,
Ihr
Heiko Werning
200 Wochen Hinterhaus, 3. Stock
1. Woche
Die Menschen, die heute durch den Innenhof laufen, sehen so derart normal aus, dass mir gleich klar ist: Die sind nicht von hier. Zwei ganz gewöhnliche Männer Mitte 40, wie aus einer ZDF-Familienserie. Keine Ausländer, keine vom Alkohol ausgezehrten Gesichter und Gliedmaßen, keine Haare bis auf die Schultern, keine flächenfüllenden Tattoos auf den Armen, nirgends Metall – so was haben wir hier sonst nicht. Misstrauisch schauen die Nachbarn aus den Fenstern.
Dann betritt das junge Paar die Szene. Ein bisschen flippig gekleidet, so wie junge Paare in der Fernsehwerbung immer aussehen, so, wie sich Werbeagenturen und Werbegucker ein bisschen flippige Adoleszenten halt vorstellen, mit dem am Körper, was H&M für ein bisschen flippige Adoleszenten auf der Stange hat – so was haben wir hier eigentlich auch nicht.
Der Fall ist klar: Westdeutsche ziehen ein.
Und tatsächlich: Nach ein paar Minuten gehen sie wieder durch den Hof zur Straße, um bald darauf mit Kisten und Gerät wieder- und wiederzukehren. Das junge Paar zieht in unser Haus, und die Väter helfen beim Einzug. Was die wohl in den Wedding getrieben hat? Wahrscheinlich diese eigenartige Verwaltungsreform, in deren Folge die ehemaligen Bezirke Wedding, Tiergarten und Mitte zu einem neuen, großen, gemeinsamen Bezirk Mitte zusammengefasst wurden. Seither kann jeder Makler den Provinzdeppen selbst den Leopoldplatz als Berlin-Mitte verkaufen, und die Zugezogenen halten die Zwitscherklause für ein abgefahrenes In-Lokal im Retro-Design.
Wie dem auch sei, die beiden Männer wirken doch manchmal leicht verunsichert, wenn sie auf den bröselnden Putz im Treppenhaus blicken oder auf das Graffiti, auf das kleine Elektroschrottlager neben den Mülltonnen oder die großteils mit Paketband zugeklebten Briefkästen. Einer davon gehört jetzt ihren Kindern. Mit dem Teppichmesser schneiden sie ihn frei. Die Werbezettelausträger werden sich freuen.
Die Väter bleiben das Wochenende über, man hört es bohren und sägen und schleifen aus den Fenstern im dritten Stock.
Die Hausgemeinschaft ist skeptisch. Wie lange die es wohl aushalten hier? Aber wir wissen noch zu wenig, um begründete Schätzungen abgeben zu können. Da bleiben nur die Erfahrungswerte mit den Vorgängern. Akshat, unser Hausmeister, und ich einigen uns auf fünf Monate, danach Umzug nach Prenzlauer Berg.
6. Woche
Das junge Paar schlägt sich tapfer. Es trägt Getränkekisten nach oben, Tannenzäpfle-Pils, Weinflaschen, sogar diese kleinen grünen Fruchtsaftkisten. Es kommt mit Reichelt-Tüten heim. Mal lugen Lauchstangen heraus, mal liegen Salatköpfe obenauf. Sie haben so ein lustiges braunes Biomülleimerchen, mit dem sie zum lustigen großen Biomülleimer gehen, wo sie dann ihre Kaffeefilter und Kartoffelschalen auf die darin liegenden Plastiktüten voll Hausmüll kippen.
Ich werde ganz nostalgisch. Ich war ja auch mal jung. Ich habe auch mal Müll getrennt. Habe auch mal Fruchtsaftkisten getragen. Fast gerührt blicke ich den beiden nach, wie sie im Hauseingang verschwinden.
8. Woche
Als ich nachts aufwache und in die Küche gehe, um etwas zu trinken, sehe ich durch das Fenster, wie sie im Morgengrauen durch den Hof nach draußen entschwinden. Richtung Uni. Zur Acht-Uhr-Vorlesung. Schaudernd lege ich mich wieder schlafen.
14. Woche
Im Treppenhaus hängt ein Zettel. In schöner, großer Mädchenhandschrift steht da: »Liebe Nachbarn! Wir feiern am Samstag unseren Umzug nach Berlin mit einer großen Einweihungsparty. Dazu sind Sie alle herzlich eingeladen, kommen Sie doch einfach vorbei. Und sehen Sie es uns bitte nach, wenn es nachts etwas lauter werden sollte. Ihre Nachbarn aus dem Hinterhaus, dritter Stock, Julian Kessler und Birthe Langmeier«. Fassungslos blickt Akshat mich an. »Von so was hat ein Freund mir mal erzählt«, sage ich, »aber der wohnt im Friedrichshain.«
30. Woche
Sie lassen das Fenster beim Sex jetzt geöffnet. Ich glaube, sie leben sich langsam ein.
42. Woche
Statt der Reichelt-Tüten tragen sie immer häufiger die in Alu-Folie eingeschlagenen, dreieckigen Päckchen, oft auch die quadratischen, flachen Pappschachteln. Allmählich sehen die Löcher in ihren Jeans nicht mehr aus, wie neu so gekauft, sondern wie: »Scheiße, kannste eigentlich nicht mehr anziehen, aber egal, hab grade nichts anderes, nächste Woche muss ich aber wirklich mal wieder einkaufen.«
75. Woche
Aus den offenen Fenstern kommt jetzt seltener lustvolles Stöhnen, dafür öfter lautes Gebrüll. Akshat meint, vielleicht bleiben sie doch länger.
130. Woche
Lange schon keine Fruchtsaftkiste mehr gesehen. Überhaupt selten Kisten. Häufig Aral-Tüten. Akshat meint, sie könnten sich ruhig auch mal neue Klamotten kaufen, bei Zeemann seien die doch ganz preiswert. Am Wochenende furchtbarer Lärm aus ihrer Wohnung. Lautes Wummern und Grölen, ohne jede Vorwarnung. Akshat beschwert sich am Montag darauf über Bierflaschen im Innenhof, außerdem habe jemand von oben in den Flieder gekotzt.
186. Woche
Sie kommen mit großen Tüten von H&M nach Hause. Schon das dritte Mal in dieser Woche. Sie sogar mit einer von Douglas.
188. Woche
Heute morgen verließen sie Hand in Hand das Haus. Er im Anzug, mit Krawatte, sie in einem schicken Kleid. Ich glaube, es geht zu Ende.
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