Sie war wie ein viktorianischer Vater, durchaus vom Wunsch nach Nähe, Innigkeit erfüllt, jedoch von der Pflicht gefordert und entschlossen, ihr Kind vorzubereiten. Sie konnte ihr dieses letzte Stück nicht entgegenkommen, aber Janis war trotzdem ihr Ein und Alles. Eher war es so, dass Janis sich wünschte, dass ihre Mutter etwas Bestimmtes darstellte, und ihre Mutter sich gleichzeitig dasselbe von Janis wünschte, und darüber gerieten sie in Konflikt.
Janis' Schulfreund Jack Smith über Dorothy Joplin
Mit 14 wechselte Janis auf die Thomas Jefferson Senior Highschool. Sie hatte Komplexe, weil sie rund eineinhalb Jahre jünger als ihre Mitschülerinnen und noch völlig unterentwickelt war. Sie trug gerade Rocke, T-Shirts, weiße Söckchen und Loafers, sanft gelocktes Haar und schminkte sich bis ins kommende Jahr noch stark. Der Unterricht war eher praktisch orientiert, mit Druck- und Metallwerkstätten, einer Tischlerei und einem Schweißerkurs. Das »Schöngeistige« beschränkte sich auf technisches Zeichnen. Janis fühlte sich unterfordert und hatte Schulfrust.
Da die soziale Anerkennung vor allem davon abhing, in welche Schulämter man gewählt oder zu welchen Miss-Wahlen man nominiert wurde, war es für Janis ein großer Schlag, dass man sie nicht ins angesehene Musikkorps Red Hussars aufnahm. Zudem setzte sie sogenannten Babyspeck an und litt unter einer hartnäckigen Akne. Ihre Mutter ließ die Schilddrüse von Janis untersuchen, aber es lagen keine Funktionsstörungen vor, die ihre unnatürliche Gewichtszunahme erklärt hätten. Intelligenz und künstlerische Talente halfen einem pummeligen, hässlichen Entlein an der Jefferson Highschool auch nicht weiter, wo man schon an Ansehen verlor, wenn man Bücher las. Ihr Schulfreund Grant Lyons dazu: »Wenn du in Port Arthur, Texas, vierzehn geworden bist, hast du an einer Art sexuellem Wettbewerb teilgenommen, wenn du ein Mädchen warst. Und wenn du nichts vorzuweisen hattest, dann hattest du schlechte Karten. Die Mädchen, die beliebt waren, sahen gut aus. Janis aber nicht.«
Janis war unglücklich und reagierte mit Aufsässigkeit. Doch ihr ungehobeltes und provokantes Verhalten machte sie nur noch unbeliebter. Zwei unterschiedliche Ereignisse ließen ihre Konflikte mit Autoritätspersonen und ihrer Umgebung eskalieren. 1957 erschien der legendäre Beatnik-Roman On the Road von Jack Kerouac, _4der zu ihrer Bibel wurde. Und ein Artikel im Time Magazine über die Beatniks _5verfehlte ebenfalls nicht seine Wirkung. Ab da wurde sie bewusst zur Außenseiterin, lief nur noch in Beatnik-Kluft herum, in kurzen Röcken, dunklen Strumpfhosen, Jeans, Männerhemden und schwarzen Pullis.
1957 wurden die neuen Rassengesetze erlassen und somit schwarze Schüler den weißen gleichgestellt. Janis machte sich lebenslange Feinde, als sie die Rassenintegration an ihrer Schule befürwortete. »So etwas macht man einfach nicht in Port Arthur«, so ihre Freundin Karleen, »man macht das noch nicht einmal heute!« Danach wurde Janis überall als »Niggerfreundin« verhöhnt, mit Pennys beworfen, als »Schwein« und »Drecksau« beschimpft. Um ihre Verletzlichkeit und Sensibilität zu verstecken, spielte Janis zunehmend den Clown, reagierte voller Trotz und tat alles, um aufzufallen und beachtet zu werden. Insgeheim wollte sie dazugehören, äußerlich entfernte sie sich mehr und mehr von der Norm. Mit ihren Freundinnen Karleen und Arlene Elster schloss sie sich den harten Brillantine-Jungs in schwarzen Lederjacken an, den so genannten »Fonzies«, Vorläufer der Hell's Angels . Sie ließ sich wie deren Mädchen, die tough girls, die Haare orange färben und raste in Rooney Pauls hochfrisiertem Schrottauto durch die Gegend. Janis passte nicht mehr ins Bild von Port Arthur, fand sich selbst hässlich, wurde schlampig und obszön, kurzum »ein böses Mädchen«. Heute würde man das als normale pubertäre Rebellion bezeichnen.
Sie hat sich einfach total verändert, über Nacht. Eine vollständige Abkehr von ihrem früheren Selbst.
Janis' Mutter Dorothy
Doch Dorothy war entsetzt über die Wandlung ihrer Tochter und sah den hart erkämpften Aufstieg der Familie in den Mittelstand gefährdet. Es kam zum offenen Kampf zwischen Mutter und Tochter, tagtäglich kam es zu Streitereien. Weil Dorothy inzwischen als Lehrerin arbeitete und Großmutter East zum Pflegefall geworden war, hatte sie viel zu wenig Zeit für ihre schwierige Tochter. Karleen berichtet, dass die Joplins durchaus liberal waren, aber furchtbar streng, wenn es darum ging, »das Richtige« zu tun - oder das, was sie darunter verstanden. »Man konnte erkennen, dass irgendetwas geschehen würde. Entweder gab sie [Janis] nach und wurde zu dem, was ihnen vorschwebte, oder sie schlug um ins andere Extrem.« Dorothy wollte eine adrette, fleißige Vorzeige-Janis, ein anerkanntes Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft von Port Arthur. Doch wenn man bedenkt, dass sie ihrer Tochter als Kind die skandalösen Hosen aufgezwungen und sie angehalten hatte, ihre Individualität auszuleben, konnte dieser entgegengesetzte Kurs in der Pubertät nicht gut gehen. Diese Ambivalenz führte bei Janis zu dem Gefühl, nie mit sich selbst eins zu sein, es keinem recht zu machen, schon gar nicht ihrer Mutter. Folglich fiel sie von einem Extrem ins andere.
Nach der neunten Klasse schloss sie sich der Beatnik-Clique »Die Vogelfreien« an, fünf älteren Jungs, die Janis »als Junge« akzeptierten, und entwickelte ein zunehmend männliches, stoffeliges Verhalten. Jim Langdon war ein Musikkenner und passabler Posaunist, Adrian Haston, Dave Moriaty und Randy Tennant gehörten der Schülertheatergruppe »Little Theater« an, die von Grant Lyons' Mutter geleitet wurde. Janis betätigte sich als Kulissenmalerin und wirkte sogar in einem Musical namens Sunday Costs Five Pesos mit. Weil die Jungs an der Schule anerkannt waren und Grant sogar ein hervorragender Footballspieler, wurde das Quintett für Janis zu einem Schutzschild. Doch gleichzeitig schürte diese Freundschaft unwahre Gerüchte über die sexuellen Aktivitäten der Clique, die auf ihren endlosen Autofahrten lieber über künstlerische Außenseiter diskutierte oder unter Alkoholeinfluss jugendliche Mutproben veranstaltete. Einmal kletterten sie die über 100 Meter hohe Rainbow Bridge über dem Sabine-River hoch und riefen damit die Polizei auf den Plan. Janis' Freundin Patti Skaff erklärte später, die Jungs und Janis seien deshalb so gut miteinander ausgekommen, weil sie es genoss, die Leute zu schockieren, was ihr als Mädchen viel leichter gelang.
Irgendwann begriffen wir, dass es recht lustig mit ihr war, denn sie konnte einen ganz hübschen Wirbel verursachen! Etwa zur ersten Hälfte unserer Highschool-Zeit war sie bei uns sehr beliebt. Ich schäme mich, wenn ich daran denke, wie wir sie manchmal behandelt haben. Sie spielte bei uns die Rolle des Hofnarren.
Janis' Schulfreund Dave Moriaty
Nicht ganz so harmlos waren die regelmäßigen Ausflüge 20 Kilometer »über den Fluss« nach Louisiana, wo die Alkoholgesetze locker gehandhabt wurden und zahlreiche Musikkneipen existierten. Der Reiz des Verbotenen lockte die Teenager, weil in Texas erst an Einundzwanzigjährige Alkohol ausgeschenkt wurde und die Gruppe zudem für trinkfeste Schriftsteller wie Ernest Hemingway oder Jack Kerouac schwärmte. Janis meinte dazu nur: »Alles, was ich suchte, waren ein bisschen Freiheit und Leute, denen es genauso ging.« Diese Ausflüge wurden jedoch bald Anlass für Klatschgeschichten in Port Arthur, in denen es natürlich ausschließlich um Sex ging, wie immer, wenn brave Bürger unbrav dachten. Doch alle, die Janis damals kannten, sind davon überzeugt, dass Janis alles andere als frühreif, sondern eher ein Spätzünder gewesen sei und wie in vielen Dingen die »Erfahrene« nur gespielt habe. »Sie war vermutlich unschuldiger als neun Zehntel aller Mädchen, die mit ihr die Highschool absolvierten«, so Jack Smith, der damals heimlich in sie verliebt war. Doch das Ergebnis der ganzen engstirnigen Tratscherei war, dass Eltern ihre Kinder vor dem Umgang mit Janis warnten und das wohl Schlimmste passierte, was sich Dorothy vorstellen konnte: die gesellschaftliche Ächtung. Karleen meinte, Dorothy hätte ihre Tochter sogar als billiges Flittchen und Hure bezeichnet. Janis erzählte später, ihr Vater habe plötzlich aufgehört, mit ihr zu reden. Auf einmal wurde die jüngere, gefügige und hübsche Laura zur Lieblingstochter und Janis verbrachte mehr Zeit bei der Familie Bennett als zu Hause, weil Karleens Eltern viel nachsichtiger waren.
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