Du bist älter geworden.
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»Ja, das ist alles nicht ohne«, murmelt die Mahnemannsche und nimmt zwei Treppenstufen auf einmal. Sie hat eine irgendwie unnachahmliche Art drauf, diese Endlostreppen im Präsidium tapptippentapp hinter sich zu bringen, das musst du neidlos anerkennen. Dieser rasante Rhythmus, mit dem sie die Füße todesmutig abwärtsschiebt und zwei Treppenstufen tiefer schlafwandlerisch sicher wieder aufsetzt, wahrhaftig beeindruckend! Ein Gletscherabstieg ist nichts dagegen. Bleibt dir nur, hinter ihr her zu stolpern, um nicht ganz abgehängt zu werden. Als sie begreift, dass der Abstand so groß geworden ist, dass du sie kaum noch verstehen kannst, stoppt sie und dreht sich fast mitleidig zu dir um. »Im Labor, die haben festgestellt, da waren jede Menge Fingerabdrücke von Ihnen drauf.«
»Auf meinen Handschellen?«, grinst du überlegen. »Logisch sind da meine Fingerabdrücke drauf.«
»Etliche waren ziemlich verwischt. Und außerdem hat sich an einigen Stellen Talkumpuder abgesetzt. Von Latexhandschuhen. Was dafür spricht«, salbadert sie weiter, »dass Ihre Handschellen beim letzten Einsatz nicht mit bloßen Händen benutzt worden sind.«
»Was? Das müsste ich doch wissen!«
»Das ist ja – ohne Ihnen zu nah treten zu wollen – ist ja nicht das Einzige, das Sie nicht mehr wissen.«
Ihr seid inzwischen im ersten Stock gelandet und absolviert den langen Marsch durch die Flure. 1-214. Du stößt stumm die Tür auf, huschst rein und willst eben die Tür rücklings hinter dir zuziehn, als du einen Widerstand spürst: einen der schlankranken Mahnefraufüße! »Sheriff, das ist, das hat kein’ Zweck ...«, raunt sie dir in den Nacken.
Was soll keinen Zweck haben? Der Kollege von der Materialausgabe wirkt auch schon leicht verstört und guckt deine aufgeregte Assistentin mit schiefgestelltem Kopf an.
»Kollege, ich brauch neue Handschellen!«, preschst du vor, »aber bitte von der neuen Liefe...«
»Moment bitte!«, geht die Mahnemannsche dazwischen, »Mann, Sheriff, hat Ihnen der Chef denn nicht gesagt ...«, sie zieht dich wieder auf den Flur, was du willenlos wie ein Kieselstein am Grunde der Moldau geschehen lässt, »... hat Ihnen der Chef nicht gesagt, dass Ihnen der Fall entzogen wurde und ...«
»Wie bitte was?«
»... und dass Sie beurlaubt sind. Fürs Erste. Erst mal nur fürs Erste.«
»Aha, nur fürs Erste erst mal.«
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Du drückst die Klinke runter, schiebst mir nichts, dir nichts die Tür auf und setzt schwungvoll an hineinzumarschieren ... Du hast dir nicht die geringsten Gedanken darüber gemacht, was du womöglich vorfinden würdest, – sowieso alles egal –, aber der Anblick, der sich dir jetzt bietet, lässt dich, zumindest für einen Augenblick, dann doch zur Salzsäule gefrieren. Sie liegt fakirgleich auf dieser knorpelharten Couch, unbequem ist, wie gesagt, gar kein Ausdruck, hat den offenbar grade aus den Traumtiefen eines wohligen Nickerchens gerissenen Schädel vom schräggestellten Kopfteil gehoben und starrt mit schreckgeweitetem Blick zur Tür, auf deren Schwelle du immer noch rumstehst wie eine unentschiedene Mischung aus Falschgeld und Django.
»Herr Dollinger?«
»Ich, das muss sofort ... also ...«
»Auch ich hab irgendwann mal Mittagspause«, mault sie mit einer Kälte in der Stimme, die du ihr nie zugetraut hättest. Ausgesprochen untherapeutisch. Aber davon kannst du dich jetzt beim besten Willen nicht beeindrucken lassen.
»Sie müssen mir helfen, sofort«, stammelst du, »ich kann jetzt beim besten Willen nicht mehr auf irgendwelche Mittagspausen oder Analysen oder was warten. Sie müssen mich wieder grade rücken!« Und zwar sofort, schiebst du in Gedanken nach, ohne es freilich auszusprechen. Besser, sagst du dir, besser, du erklärst dich wenigstens einigermaßen nachvollziehbar. »Die haben mich abgezogen von dem Fall, und ich garantiere Ihnen, die wollen mich über kurz oder lang vom Dienst suspendieren. Und vorher muss ich mich selbst wegen Mordverdacht in U-Haft stecken. Sobald die die letzten Spuren ausgewertet haben. Scheiße, ich bin mir überhaupt keiner Schuld bewusst.«
»Aber«, sagt sie mit allmählich wieder therapeutischweichgespülter Stimme, rappelt sich auf und setzt sich mit einer unbeholfenen Körperdrehung auf die Kante ihrer Knochenfolter-Couch, »aber Sie können es auch nicht ausschließen, dass Sie’s nicht vielleicht doch getan haben könnten.«
Du glaubst, du spinnst! »Was? Ich glaub, ich spinne! Was reden Sie denn da!« Aber schließlich geht dein aufmüpfiger Tonfall doch baden und du murmelst kleinlaut: »Sie glauben also auch, könnte sein, dass ich ... Verfluchte Scheiße, das müsste ich doch wissen! Ich bin doch nicht völlig panne. Frau Wernigge, Sie müssen mir ganz schnell wieder die Möbel grade setzen im Kopf. Ich will jetzt hier gleich rausgehn und zum Chef stratzen und ihm sagen: Hier bin ich, bei mir ist alles klar im Dachstübchen, und der Fall ist wieder meiner. Okay? Also machen Sie, tun Sie was!«
Die Wernigge zupft sich die Bluse zurecht, drückt die Beine durch, setzt die Füße mit Schwung auf den Boden und lässt die Couchkante weit hinter sich.
Generalstabsmäßigen Schritts geht sie rüber zu ihrem ebenfalls kargen, aber wenigstens gepolsterten Therapeutenstuhl und setzt sich. »Vielleicht, Herr Dollinger, vielleicht waren’s ja tatsächlich nicht Sie ...«
Das schlägt dem Fass den Boden aus. »Vielleicht?!«, donnerst du sie an.
Aber sie fährt völlig unbeirrt in ihrem Programm fort: »... sondern Ihre zweite Person.«
»Meine zweite was? Sagen Sie, bin ich hier bekloppt oder wer?«
Kaum richtig Platz genommen, erhebt sie sich wieder und schreitet in ausladenden Kreisen durch den Raum. Offenbar ist, was jetzt kommt, zu gewichtig, als dass sie es im Sitzen würde zum Vortrag bringen wollen. »Ich hab jetzt nicht viel Zeit, gleich nach der Mittagspause hab ich die nächste Sitzung. Also nur so viel: Die Symptomatik der dissoziativen Identitätsstörung nimmt sich in der Regel so aus, dass ...«
Ist wahrlich nicht ganz ohne, einen psychotherapeutischen Fachvortrag über sich ergehen zu lassen, während man dermaßen auf heißen Kohlen hockt, dass einem ... immerhin geht’s ja um keinen andern als um dich! Aber du zwingst dich, Aufmerksamkeit zu heucheln. Schließlich hast du den Kopf so richtig in der Schlinge, und diese Frau, die ist die einzige, die den wieder ... Vielleicht.
»Die Ausbildung multipler Persönlichkeiten«, doziert sie und verschränkt die Hände überm Steiß, während du dich auf dem asketischen Liegemöbel der Selbsterkenntnis niederlässt, »ist ein äußerst effektives Abwehrsystem für Menschen, die im Kindesalter eine grausame, anhaltend traumatisierende Erfahrung machen mussten. In Ihrem Fall ist das primäre, das im Alltag dominante System die Person des korrekten, perfekten und erfolgreichen Ordnungshüters.«
»Und die andere Person?«, versuchst du mehr schlecht als recht mitzudenken.
»In Ihrem Fall der Loser, der ständig vom Damoklesschwert seiner früher erlittenen physischen und psychischen Schmerzen eingeholt wird. In ihrer ungezügelten Aggressivität erfüllt diese Persönlichkeit sich ihre Bestimmung, indem sie schwere Straftaten begeht, nicht nur aus brutaler Rache, sondern auch, um die Strafe, die der Tat auf dem Fuße folgt, als gerechte Selbststrafe zu erleben.«
Wenn dir bislang noch nicht heiß und kalt war, dann jetzt. »Von was reden Sie da, von was für früheren Schmerzen?«
»Tja«, die Wernigge ist stehen geblieben und stützt die Hände in die Hüften, »das, Herr Dollinger, wird unsre nächste Aufgabe sein, das rauszukriegen. Ihre zweite Persönlichkeit lebt jedenfalls genau die Potenziale aus, die sie in ihrem Primärsystem als Kommissar täglich bekämpfen. Und deshalb müssen Sie Ihre brutale Seite verdrängen und tabuisieren.«
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