Die unterschiedlichen Gesamtperspektiven der Pilgerberichte wirken sich auch auf die jeweilige Sicht des Wallfahrtsortes Santiago de Compostela aus. Lee Hoinacki und Carmen Rohrbach stimmen mit Hape Kerkeling darin überein, dass sie den Pilger weg wichtiger finden als den Ziel ort . Die drei Pilger erleben ihre Ankunft beim heiligen Jakobus nicht als das Erreichen eines erhabenen Ortes, der Geborgenheit und Sicherheit ausstrahlt. So distanziert sich Lee Hoinacki ausdrücklich von jeder Gebeinverehrung im Zentrum der Kathedrale: „Ich habe nicht den Wunsch, irgendeine Reliquie zu sehen oder zu berühren.“ 40Stattdessen bringt er seine inneren Begegnungen mit den Pilgern auf seinem Lebensweg und auf seinem Jakobsweg als seine ganz persönliche Berührung von Reliquien ins Wort: „Ich existiere nur insoweit, wie ich an den unzähligen Handlungen teilnehme, die in ihrer Summe die lebendige Tradition begründen, die mein Erbe ist, das meine Eltern und die Pilger mir gegeben haben. All die ,inneren‘ Erfahrungen dieser vier Wochen haben sich nur insofern ereignet, als sie wirkliche Verbindungen mit den Erfahrungen der Toten hatten, die mich begleitet haben. Ich habe gelernt, wie ich ein ehrliches ,wir‘ aussprechen muss, etwas grundsätzlich anderes als das unechte und selbstherrliche ,wir‘, das man heutzutage so oft hört. Die Reliquien, die ich berühre, das sind sie, das ist ihre wirkliche Anwesenheit. Ich habe sie getroffen, umarmt und geküsst; ihre Lippen waren nicht kalt. […] Die meisten sind dort draußen, auf dem ,camino‘, und warten darauf, den Pilger von heute willkommen zu heißen.“ 41
Ähnlich gefasst beschreibt Carmen Rohrbach ihre Ankunft in Santiago de Compostela in ausdrücklicher Abgrenzung von den mittelalterlichen Pilgergesängen („Herr Sankt Jakob, Großer Sankt Jakob, vorwärts jetzt und immerdar, Gott helfe uns“): „So sangen sie. Ich aber verspürte keinen Freudenrausch. Seltsam nüchtern stellte ich nur fest, dass ich nun wohl angekommen war. Das sollte mein Ziel sein, diese große Stadt? Aber was hatte ich denn anderes erwartet? Etwas Besonderes, ohne mir dessen jedoch ganz bewusst gewesen zu sein. Ich fühlte mich plötzlich innerlich sehr müde. Ich dachte, ich müsste einfach an diesem Wirrwarr der Dächer, Kirchtürme vorbeiwandern, einem imaginären Ziel entgegen, ohne jemals anzukommen.“ 42Und mit Blick auf das Heiligtum des heiligen Jakobus hält sie fest: „Am stärksten in der Kathedrale beeindrucken mich die Menschen. Zu jeder Tageszeit habe ich in dem Gotteshaus Gläubige angetroffen, versunken in stiller Andacht.“ Einen zwiespältigen Eindruck hinterlassen bei ihr die zahlreichen Pilger, die die Statue des Heiligen umarmen: „Mich berührt der feierliche Ernst dieser Leute, aber mich erschüttert die Macht, die der Glaube auf die Vernunft ausübt.“ 43– Auch mit Santiago de Compostela vor Augen erleben die beiden Autoren die Ausdrucksweisen christlicher Religion nicht so, als ob sie Gewissheit stifteten. Diese Beobachtung ist umso erstaunlicher, da der Jakobsweg mit seiner reichen mittelalterlichen Bausubstanz und der Zielort mit seinen legendarischen Sinnzuschreibungen einen für heutige Verhältnisse geschlossenen weltanschaulichen Deutungskosmos anbieten.
Allein der Pilgerbericht von Paulo Coelho ist von einem tiefen inneren Wissen um jahrhundertealte Glaubenstraditionen, ja vom Bemühen um die möglichst originalgetreue Übernahme der mittelalterlich-christlichen religiösen Ausdrucksformen durchzogen. So kann er mit Blick auf die in einer kleinen Kirche am Rande des Jakobsweges versammelten Reliquien – in diesem Falle Reste von konsekriertem Brot und Wein – hervorheben: „Die Reliquien, ein Schatz, der größer ist als aller Reichtum des Vatikans, werden noch immer dort in der kleinen Kapelle aufgehoben.“ 44Coelhos Wertschätzung der Jakobusreliquien am Zielort seines Pilgerweges findet in seiner Erzählung ebenso klare wie knappe Erwähnung: „Bald werde ich zum Grab des heiligen Jacobus gehen und die auf die Jakobsmuscheln montierte Statue der heiligen Jungfrau von Aparecida dort niederlegen. Anschließend werde ich so bald wie möglich zurück nach Brasilien fliegen, denn ich habe viel zu tun.“ 45
Kurzum: Mit Ausnahme der Darstellung von Paulo Coelho tun die einbezogenen Berichte kund, dass die Pilgernden das „Eigentliche“ ihrer Pilgerschaft nicht länger im Zielort – in der Begegnung mit dem Heiligen in seinen Reliquien –, sondern in der Begegnung mit sich selbst und den Mitsuchenden auf dem Pilgerweg sehen. Auch eine praktisch-theologische Auswertung von aktuellen Pilgerberichten kommt hier zu einem vergleichbaren Ergebnis: „Die Verehrung des Apostels im traditionellen Sinn spielt heute nur noch bei den wenigsten Pilgern und Pilgerinnen eine Rolle. Für die meisten ist es nicht besonders wichtig, ob in dem Grab in der Kathedrale von Santiago nun tatsächlich die Knochen des Apostels liegen. Was zählt, sind die entlang des Weges gemachten Erfahrungen.“ 46So ist die Pilgerschaft aktuell erstrangig geprägt von der Vertiefung der eigenen Individualität sowie von einem Mühen um Ganzheitlichkeit (Leib – Seele, Außenorientierung – Innenorientierung, Geschichte – Gegenwart etc.), jedoch kaum von institutionellen Vorgaben.
b) Das Christentum – Eine Religion des Weges
Etwa 16.500 Deutsche machten sich im Jahr 2011 gemäß einer Umfrage der Arbeitsgemeinschaft deutscher Jakobus-Vereinigungen auf, um den Jakobsweg zu gehen – 2000 mehr als im Jahr zuvor, etwa 10.000 mehr als noch im Jahr 2005. Pilgerreisen und Wallfahrten gelten eben auf breiter Basis – und weit über die vorgestellten Pilgerberichte hinaus – nicht länger als „mittelalterliche Phänomene par excellence“, denen der Geschmack des Gestrigen und Überholten anhaftet. Im Gegenteil, so unterstreicht ein Tourismusforscher: „Auf der ganzen Welt werden die ungebrochene Popularität und sogar eine Zunahme von Wallfahrten beobachtet.“ 47
Auch ohne dass verlässliche Angaben zur jährlichen Zahl der Pilger und Wallfahrer in allen Religionen vorliegen, ist das Jahresaufkommen an katholischen Pilgern beeindruckend. Unter den römisch-katholischen Wallfahrtsorten ist das mexikanische Marienheiligtum Guadalupe mit rund 14 Millionen Pilgern jährlich der meistbesuchte Wallfahrtsort der Welt. Mit 7,5 Millionen Besuchern folgt das süditalienische San Giovanni Rotondo, der Wohn- und Sterbeort des in Italien äußerst populären Pater Pio († 1968). An dritter Stelle in der Statistik der Wallfahrtsorte rangiert das brasilianische Marienheiligtum in Aparecida mit jährlich 7,3 Millionen Pilgern. Es folgen mit jeweils etwa fünf Millionen Besuchern der Marienwallfahrtsort Lourdes und der Montmartre von Paris in Frankreich, Tschenstochau in Polen, Fátima in Portugal, Luján in der Nähe von Buenos Aires in Argentinien und Padua in Italien. Gleich dahinter finden sich mit etwa 4,5 Millionen Besuchern jährlich die Wallfahrt zum heiligen Jakobus in Santiago de Compostela in Spanien sowie die Pilgerfahrt nach Assisi und Loreto in Italien. Dagegen pilgern an die Stätten Jesu im heutigen Israel jährlich nur ungefähr zwei Millionen Menschen, etwa ebenso viele wie zum afrikanischen „Petersdom“ in Yamoussoukro an der Elfenbeinküste. 48
Ein seltsamer Kontrast: Zwar schätzen die Pilger in jüngerer Zeit eher die persönlichen Erfahrungen des Weges als den Zielort mit den heiligen Reliquien. Doch ist es offenbar weiterhin die Faszination des Zielortes, der die Menschen überhaupt erst zu ihrem Vorhaben der Pilgerschaft und den damit verbundenen Wegerfahrungen motiviert. – Umso mehr stellt sich die Frage, wie es im Christentum – innerhalb wie außerhalb Europas – überhaupt zu einem solchen Netz von heiligen Orten kommen konnte, das so viel religiös begründete Mobilität ausgelöst hat. Diese Überlegungen sehen sich zudem dadurch provoziert, dass das Neue Testament die Anlage solcher Orte weder kennt noch anmahnt.
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