Man hatte sie festgenommen, kurz nachdem frische Containerware eingetroffen war. Wie immer war nicht die gesamte Ladung heil geblieben. Einige Stücke waren verdorben. Um die Leichen kümmerten sich die Aufräumer. Er war ein „Runner“. Seine Aufgabe war es, die Mädchen in den Unterkünften abzuliefern. Ellen war der „Boarder“. Sie wies den verängstigten Bündeln Mensch ihre Matratzen zu.
Was dann geschah, spielte sich außerhalb ihres Einflussbereichs ab. So sahen sie es, Ellen und er. Es war eine Geschäftsentscheidung, nichts Persönliches. Natürlich sträubten sich die Mädchen. Man musste sie an den Pritschen festketten. Es waren zu viele von ihnen. Sie waren krank, dehydriert und verwirrt. Sie schlugen um sich und schrien. Es war kein einfacher Job, aber er war gut bezahlt. Es ging nicht ohne Disziplin. Ohne Disziplin wären sie alle gefährdet gewesen. Die Tabletten und die Spritzen sorgten für Disziplin. In der Drogendämmerung unternahm man keine Fluchtversuche und plante keine Selbstmorde. Drogen machten friedlich und fügsam. Die Kunden liebten friedliche und fügsame Mädchen, frisch herausgeputzt und wohlunterrichtet.
Die Unterrichtung unternahmen andere, die mit amerikanischen Limousinen vorfuhren und mit Kennerblicken taxierten, was sie vorfanden. Sie machten ihre Späße mit den Mädchen. Man nannte sie „Zureiter“. Das Schreien war längst in ein Wimmern übergegangen. Wimmern war ein gutes Zeichen. Erhobene Arme über gesenkten Köpfen waren ein gutes Zeichen. Die Männer in den amerikanischen Limousinen liebten gute Zeichen. Ihren toten Augen entging keine Regung, während sich ihre Körper auf den Mädchen abarbeiteten.
Ellen und er nahmen an den Abrichtungssitzungen nicht teil. Es war nicht ihre Aufgabe und sie hatten kein Interesse daran. Zu viel Fleisch, zu viel Tragik, zu viele gebrochene Wesen. An solchen Tagen hatten sie noch mehr zu tun als sonst. Die Mädchen mussten hergerichtet und verköstigt werden. Die Zureiter machten alles komplizierter als nötig. Oft weigerten sie sich, die vereinbarten Summen auszuzahlen. Sie bemängelten den Zustand der Ware, wiesen auf Hautunreinheiten und ausgeschlagene Zähne hin, mäkelten über Ausschläge und Verschorfungen. Es war nicht immer einfach, aber schließlich kam man immer überein. Einige der Mädchen überlebten die Prozedur nicht. Man hatte diesen Schwund von Anfang an eingepreist. Die Zureiter besaßen einen unbestechlichen Blick für untaugliches Material und sie hatten Waffen. Sie waren es, die aussortierten, nicht Ellen oder er.
Ellen und er befanden sich ganz unten in der Befehlskette. Jeder konnte ihnen Befehle erteilen. Ohne sie wäre es den Mädchen noch viel schlimmer ergangen. Durch sie war kein einziges der Mädchen zu Schaden gekommen. Das war ein Fakt.
So sah es zum Glück auch die Staatsanwaltschaft, die ihnen für ihre volle Kooperationsbereitschaft als Kronzeugen einen Handel vorschlug. Nicht dass man sie mit Samthandschuhen anfasste. Im Gegenteil. Man traktierte sie mit Fotos misshandelter und geschändeter Mädchen, als ob sich Ellen und er an jedes Gesicht erinnern würden, das durch ihre Hände gegangen war. Es war nicht fair. Sie hatten eine bessere Behandlung verdient. Man stellte ihnen immer die gleichen Fragen und beschuldigte sie, als ob sie Verbrecher seien. Man drohte ihnen lange Haftstrafen an und schüchterte sie ein. Dann ließ man sie reden. Wochenlang redeten sie, bis man alles aus ihnen herausgequetscht hatte. Sie wurden in unterschiedlichen Haftanstalten untergebracht. Vor Gericht mussten sie nicht erscheinen.
Er hatte lange in seiner Zelle auf Nachricht gewartet. Minuten wurden zu Stunden und Stunden zu Tagen. Als man ihn abholte und auf seine neue Identität vorbereitete, war eine lange Zeit vergangen. Zu lange. Er hatte verlernt glücklich zu sein. Von Ellen hatte er nichts mehr gehört. Das musste so sein. Es gehört zum Programm. Nicht dass er traurig darüber gewesen wäre. Was ihn mit Ellen verband, war die Routine einer entspannten Arbeitsbeziehung. Mit Kollegen war es immer schön.
Dann erfuhr er von ihrer Hinrichtung. Noch am gleichen Tag begann er mit dem Nasenbohren.
In der Schweiz fühlte er sich gut aufgehoben. Er war den Empfehlungen der Experten gefolgt und brachte in rascher Folge mehrere Umzüge hinter sich. Seine Spur erkaltete. Niemand war eingeweiht. Er handelte auf eigene Gefahr. Sein Äußeres glich sich den Fotos in den neuen Pässen an. Seine finanziellen Rücklagen aus besseren Tagen hatten noch nicht besorgniserregend gelitten. Er nahm sich Zeit zum Nachdenken und konnte keinen Fehler entdecken. Die Spur erkaltete immer mehr. Bald würde ihn niemand mehr aufspüren können und dann würde er sich neuen Aktivitäten widmen. Eine Zukunft wartete auf ihn. Eine Zukunft, in der seine Talente gebraucht wurden.
Bewacht wurde seine Zukunft von einem buckligen Berghang, der im Frühling ein Polster aus Blüten trug und voller Zuversicht zu einem Gebirgsmassiv schaute, das mit gezackten Schatten talwärts griff. Die Hütte mit Käserei war zu vermieten. Es war ein einfaches Quartier ohne Bequemlichkeiten. Die Wanderwege und eine Seilbahn führten in respektvoller Entfernung vorbei und der Senn war ein kauziger Mensch unbestimmten Alters, der seine Kühe mit einem breiten Singsang rief und seinem Logiergast keine Fragen stellte. In seiner Welt gab es die Jahreszeiten, das Vieh und den Käse und nicht viel Anderes von Bedeutung. Der Gast schätzte diese angeborene Diskretion. Nur manchmal saßen die beiden auf der roh gezimmerten Bank vor der Hütte und schauten, wie die blauen Schatten des Gebirges Besitz von der Landschaft ergriffen. Meist schwiegen sie zu Buttermilch und Moosbrot. Der Senn war einer der letzten Dörfler, der sich darauf verstand, Moosbrot herzustellen. Wenn es um Käse und Brot ging, fand er seine Stimme unter den Flechten seines Bartes und erzählte in langsamen, weichen Sätzen. Den Ausführungen waren die Schwermut anzuhören und das Unverständnis für die neue Zeit, die sich aus dem Rhythmus des Lebens hinausbeschleunigte.
Die schwarzen Fladen aus gestampftem, gebackenem Moos, das man an der Rinde einer harzhaltigen, grobborkigen Tanne und auch an der Lärchenrinde fand, schmeckten ein wenig bitter und nach entbehrungsreicher Vergangenheit. Es war gut so.
Zum Herbst hin wurden die Schatten schon am frühen Nachmittag besitzergreifend. Kalte Winde fegten die Wolkendecke beiseite und der klare Geruch nach Schnee lag in der Luft. Dorf um Dorf spaltete Holz und fuhr die letzten Vorräte ein.
Bald würde man mit den Kühen talwärts ziehen. Für den Gast wurde es Zeit. Er hatte genug von der Stille. Er hatte Insekten in ihrem Flug beobachtet. Er hatte gelernt, die Gerüche der Herdfeuer voneinander zu unterscheiden. Lange war er wachsam geblieben, hatte gelauscht und gespäht. Jeder Wanderer und jeder Drachenflieger erschien ihm verdächtig. Sein Herzschlag beschleunigte sich bei jedem Geräusch, das sich an sein Ohr stahl. Er schlief mit einer entsicherten Waffe unter dem Kopfkissen, als sei er ein Darsteller aus einem schlechten Roman. Nach Monaten konnte er sicher sein, dass seine Bemühungen erfolgreich waren. Seine Spur war endgültig verwischt. Niemand suchte ihn, denn es gab ihn nicht mehr.
Sein Gastgeber bestätigte ihn in seinen Vermutungen. Vorsichtige Nachfragen nach Neuankömmlingen und Ausländern in den Dörfern beantwortete der Senn mit einem Kopfschütteln. Von solchen Leuten hätte man gehört. Nachrichten verbreiteten sich rasch in den Bergen. Die Berge hatten Platz dafür. Neue Gesichter waren immer eine Nachricht. Auch der Gast des Senns war eine gewesen. Ein geschiedener, verbitterter Mann in den besten Jahren. Ein Journalist, der zur Ruhe kommen und ein Selbsterfahrungsbuch schreiben wollte. Nicht einer, der den Lauf der Berge störte, sondern einer, der sich in ihren Schutz begab. Ein zahlender, stiller Gast. Ein Gast, wie ihn die Dörfler mochten.
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