JUTTA BLUME
RUF DER PFLANZEN
Historischer Roman
Erster Teil
Zuckerrohr
Guyana, 1761
1
Durch den Spalt konnte Ife sehen, wie ein Busch schwerfällig an der Hütte vorüber zog. Kurz darauf folgte ein weiterer. Das Pochen in ihrem Schädel übertönte das dazugehörige Rascheln. Sie hielt sich an dem Spaltbreit Realität hinter der rohen Bretterwand fest, ihrer einzigen Verbindung zur Außenwelt. Hier drinnen waren ihr Schmerz, die Angst, entdeckt zu werden, das Pochen in ihrem Kopf, die immer wieder verschwimmende Sicht. Es war an der Zeit aufzustehen und ihr blutiges Lager zu verlassen. Nur noch einen Augenblick.
»Warum hast du nichts gesagt?«, hatte Coba gefragt, als es Ife schon fast die Beine weggezogen hatte und sie nur noch aus Reißen und Ziehen bestand. Nun konnte sie sich nicht mehr erinnern, wie viele der Samen sie sich hastig in den Mund gesteckt und geschluckt hatte. Je mehr, desto besser, hatte sie gedacht, bevor sie nichts mehr dachte. Coba hatte sie auf ihren winzigen, gebeugten Körper gestützt und in die Hütte gebracht, sie auf ein spärliches Lager aus Stroh gebettet. Dann hatte sie immer wieder denselben Satz in ihrer Zeremoniensprache gemurmelt: »A ben de bifo, bifo ben-de ben de, di tro ben-de tide.«
»Ich kann nicht bei dir bleiben«, hatte Coba gesagt, als sie sich wieder erhob. »Nicht jetzt, ich habe Kranke zu behandeln. Mögen die Ahnen dich beschützen. Doch strapaziere sie nicht zu sehr. Sobald du gehen kannst, verschwinde und lass niemanden sehen, was hier geschehen ist.« Coba war gegangen, ohne sich noch einmal umzudrehen. Ein untrügliches Zeichen, dass Ife durchkommen würde.
Ife wusste nicht, wie viel Zeit seitdem vergangen war. Sie wusste überhaupt nicht, ob sie noch dieselbe Person war oder vielleicht schon längst ein Geist geworden war. Ihre Schmerzen ließen sie vermuten, dass sie noch Mensch war. Vor ihrem Spalt zur Welt zogen nun in umgekehrter Richtung die Männer vorbei, die gerade noch Büsche gewesen waren. Doch Männer mochte man sie auch nicht nennen, sie waren formlose Lumpenpakete mit zerschnittenen Pranken und gehetzten Augen. »John«, schoss es ihr beim Anblick des zweiten durch den Kopf, und sie war froh, ein weiteres Stück ihres Lebens greifen zu können. Es war das schlechteste Leben, in das sie die Geister ihrer Vorfahren hatten entsenden können, doch sie war noch nicht bereit zu sterben.
Sie rollte sich zur Seite, ging dann auf alle Viere und schob mit den Händen zusammen, was nicht hatte leben sollen, einen kleinen blutigen Klumpen, verklebt mit Pflanzenfasern. Sie spähte zwischen den Brettern ihrer Hütte in alle Richtungen, um dann gebückt, in den Armen die gewichtlose Last, in die Felder zu rennen. Nach zwanzig Schritten meinte sie, sofort auf den Boden fallen und vergehen zu müssen, doch sie musste weiter. Sie verstreute das befleckte Stroh inmitten des reifen Zuckerrohrs, achtlos würden die anderen Sklaven später darauf herumtrampeln, wenn sie kamen, um das Rohr zu schneiden. Sie waren nicht weit von hier, schon morgen könnten sie hier sein. Ife lauschte auf das leise Flüstern des Baches, der sie schon oft gerufen und ihr Geschichten von einer anderen Welt erzählt hatte. An seinem Ufer würde sie sicher sein. Die Aufseher waren mit den anderen Sklaven auf den Feldern. Es war nicht leicht, die Geräusche des Baches hinter dem lauten Rauschen in ihren Ohren zu erkennen. Sie reinigte ihre dreckigen Hände notdürftig an den Blättern des Zuckerrohrs. Direkt floss frisches Blut über ihre Finger, gut so, es übertünchte das alte und ließ die Hände nach Arbeit aussehen. Sie vernahm ein Rascheln. War es ein Tier oder ein Mensch, oder nur die Blätter, die ein letztes Mal miteinander spielten, bevor sie den Macheten zum Opfer fielen? In gebückter Haltung arbeitete sie sich weiter durch das Feld hindurch.
Dann stand sie an der Grenze zur Freiheit, dort, wo der Bach gleichgültig an den Steinen nagte. Die Sonne ließ seine unruhige Oberfläche glitzern, als hätte jemand flüssiges Gold darüber gegossen. Zwei blaue Schmetterlinge jagten ihren eigenen Schatten hinterher, blind für die menschliche Gestalt, die langsam ihre Füße ins Wasser tauchte. Der Bach war seicht, das Wasser reichte kaum bis an ihre Kniekehlen. Der Länge nach legte Ife sich in sein Kiesbett, noch mit ihrem Rock bekleidet. Sie war eine Alge in der Strömung, die sich geschmeidig dem Wasser anpasste. Das Wasser war angenehm, die Kälte durchdrang den Unterleib und betäubte den Schmerz. Sie zwang sich, nicht abzutauchen, nicht die Augen zu schließen, nicht gierig das Wasser zu trinken, bis sie selbst zum Bach wurde. Sie war nahe daran, wieder das Bewusstsein zu verlieren. Über die Grenze gehen, warum nicht? Warum nicht auf die einfache Art?
Dann war da wieder deutlich das Plätschern des Wassers, das im leichten Wind raschelnde Zuckerrohr, der ferne Ruf eines Aufsehers, und Ife wusste, dass sie auf die Plantage zurückkehren musste, wobei das Zurückkehren schwieriger sein würde als das Fortlaufen.
Der einzige Weg zurück führte über die Krankenbaracke. Coba würde erklären, dass sie Ife gerufen hatte, falls jemand fragen würde. Coba würde schon etwas einfallen.
Noch einmal ließ Ife ihren Blick auf die andere Seite des Baches schweifen, von wo der Wald ihr ein Lächeln schickte. Wenn ein undurchdringliches Dickicht lächeln konnte, so war es ein verschlossenes Lächeln, dessen Hintergedanken niemand erraten konnte. Die Götter und Geister allein konnten ihr helfen, dieses Lächeln zu verstehen. Doch keiner von ihnen war gekommen, ihr den Weg zu weisen, der einzige Winti, der sich in ihrem Inneren regte, war Leba mit ihrem Ekel vor Spinnen und Würmern. Leba flüsterte ihr zu: Geh nicht dort hin, dort verbirgt sich Getier, das du nie gesehen hast. Bleib auf der Plantage, bleib bei den Ratten, bei den Schlangen und Spinnen, die du schon kennst, aber geh nicht in dieses Dickicht.
Langsam zog Ife ihre Beine aus dem Bach und entfernte sich mit wackeligen Schritten. Dabei löste sich in ihr ein grollender Seufzer wie ein lang gestreckter Furz. Da wusste sie, dass das Yorka des Kindes endgültig gegangen war und sie nunmehr wieder allein in ihrem Körper wohnte.
Sie tauchte erneut in das hohe Zuckerrohr ein, das keinen Blick auf die Plantage erlaubte. Ihre Ohren übernahmen die Führung, doch so sehr Ife lauschte, sie konnte aus keiner Richtung die vertrauten Geräusche vernehmen, weder die Rufe: »Nun macht schon! Schneller! Schlaft ihr?«, noch das Knallen der Peitsche in der Luft oder auf nackter Haut, auch nicht die monotonen Gesänge der Sklaven, mit denen sie sich aus ihren Körpern heraus sangen, um Zeit und Schmerz zu vergessen. Nicht einmal das Schnauben eines Pferdes war zu hören, nur die Rufe der Vögel über der Plantage.
Als sie das erntereife Feld durchschritten hatte und die unbefestigten Pfade, die Lagerhäuser und Ställe sowie den Schornstein der Zuckermühle überblicken konnte, sah sie keine menschlichen Gestalten, weder die Aufseher noch die wandelnden Büschelberge der Sklaven. Sie lief nun so schnell sie konnte über die schon abgeernteten Felder. Die Krankenbaracke war das erste Haus im Lager der Sklaven. Von den übrigen Schlafbaracken unterschied sie sich nur dadurch, dass sie viel kleiner war. Wie alles hier war sie aus rohem Holz schnell und schlecht zusammengezimmert, zwischen den Brettern klafften finger- bis dreifingerbreite Lücken. Das Dach war mit gebündelten Palmwedeln gedeckt. Fenster gab es nicht, eine verschließbare Tür ebenso wenig.
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