Gut, ich habe da so einen Verdacht. Im Nebenhaus wohnt nämlich Hartz IV. Er ist schon lange arbeitslos. Manchmal meldet es sich noch zu Wort. Dann aber eher unqualifiziert. Vor allem, wenn es sich mit seinem Hund unterhält. Es ist stark tätowiert, trägt einen Cowboyhut und Brille. Und es ist ein echter »Balliner«. Die sind hier im Viertel eher selten, aber wenn man welche sehen will, bietet das Prinzenbad eine gute Gelegenheit, und irgendwie ist es auch der richtige Ort, denn man muss vier Euro Eintritt zahlen, um sie besichtigen zu können. Ins Wasser gehen sie nie, jedenfalls habe ich sie dort noch nie gesichtet. Eines der seltenen Exemplare dieser Spezies hat einen hervorragend geformten Eierkopf, trägt Glatze, einen Schnurrbart, reichlich Tattoos – Adler, Drachen, Schlangen und so Zeug –, und aus der knappen Badehose ragen etwas zu dünn geratene Beinchen. Wie bei den anderen weist sein Körper eine tiefe Bräunung auf. Um den Hälsen hängen fette, glänzende Goldketten. Die kleine Gruppe sitzt immer auf der Terrasse und aalt und ölt sich. Und als ich an ihnen vorbei schlendere, sagt einer gerade: »Mann, wie die Zeit rast, wa?«
Auch eine üppige blonde Frau ist dabei. Früher waren es zwei. Eine fehlt. Sie war noch dunkler als die anderen, fast so dunkel wie eine Kastanie, und dann auch fast so schrumplig.
Goldkettchenjungs
Zwei Schwangere liegen in den Liegestühlen der »Goldmarie« und klagen sich ihr Leid. Die eine mosert: »Jeder starrt mir auf den Bauch, als ob er noch nie ne Schwangere gesehen hätte, dabei gibt es die hier doch im Dutzend.« Nur Berlin Mitte soll eine höhere Schwangerendichte haben. Hier rollen sie im Minutentakt an einem vorüber. »Und anfassen will auch jeder«, sagt die andere. »Das geht mir vielleicht auf die Eierstöcke.«
Puuuh, denke ich eingeschüchtert. Sonst denke ich lieber nichts. Ist vielleicht besser so. »Wenigstens schützt ein Bauch vor rassistischen Übergriffen«, sagt die eine wieder. »Hä?«, macht die andere. Drei gut durchtrainierte türkische Goldkettchenjungs aus der U18-Liga wären ihr über den Weg gelaufen, die nur auf ein Zwinkern lauerten, um ihr zu erklären, was Sache ist: »Was guckst du? Willste auf Fresse? Ich mach dich Urban, ey!« Aber dann hätten sie den Bauch bemerkt. Sofort wurden sie sanft und boten ihr sogar einen kleinen Welpen zum Kauf an, der um sie herumsprang. »Für 300 kannst du haben. Kann dein Kind mit spielen.« Auf dem Weg nach Hause beobachte ich, wie drei 16-jährige Kids mit unklarem migrantischen Hintergrund einer Frau hinterher pfeifen und ein paar testosterongesteuerte Anzüglichkeiten giggern. Die Frau dreht sich um. Sie ist hochschwanger, ihre Augen funkeln. »Oh, tut uns leid. Ham wir nicht gesehen. Viel Glück noch«, schnattern sie ehrlich erschrocken über ihren Fauxpas und verdrücken sich schnell. Aber nicht schnell genug, denn ich bin wie ein Schatten hinter ihnen und kriege noch mit: »Geiler Arsch, echt ey.« Aber sie haben den nächsten schon im Visier. Diesmal den von einer garantiert Nichtschwangeren. Das Spiel beginnt von neuem.
Zu Hause ruft mich Horst Tomayer an: »Sach-ma, mein Herzallerliebster, bist du libidinös zufrieden? Alles im grünen Bereich?«
Anraunzerei
»Hey, es ist nicht statthaft, hier ein Eis zu essen«, blökt uns eine ältere Frau mit einer Aldi-Plastiktüte vor der Eisdiele an, vor der es vor Eisschleckern nur so wimmelt und vor der auch spät abends noch Leute Schlange stehen. Die Frau hat offensichtlich nicht mehr alle Schweine im Rennen. Aber dieses »Es ist nicht statthaft« gefällt mir. Es passt so gar nicht in das Gezeter, das ihr pausenlos aus dem Mund quillt. Es deutet vielmehr auf intensiven Kontakt mit Behörden hin und hat sich wahrscheinlich auf diese Weise in ihren aktiven Wortschatz geschlichen.
Niemand kümmert sich um sie oder reagiert auf sie. Jeder geht ihr aus dem Weg, und jeder ist ein potentielles Opfer ihrer Anraunzerei. Einen Mangel an Opfern gibt es nicht, denn wir befinden uns auf der Admiralbrücke, auf der wie an jedem warmen Sommerabend eine Art Powwow stattfindet, ein Gelage mit jungen Rucksacktouristen aus verschiedenen Ländern, die alle auf die gleiche tolle Idee gekommen sind und eine Gitarre mitgebracht haben. Gegenüber der Dänin, die leicht entrückt an den Saiten ihrer Harfe herumzupft, sehen sie aber mit ihrer Gitarre echt alt aus. Leere Bierflaschen klirren übers Pflaster. Und über allem liegt the wall of Schnattersound, ab und zu durchbrochen vom lauten Gelächter einer türkischen Männergruppe. Die meisten verstehen die keifende Frau mit den wirren Haaren gar nicht, wenn sie durch die auf dem Pflaster sitzenden Hippies hindurchschlurft und sie anfaucht, was alles »nicht statthaft« ist, und es ist so ziemlich alles »nicht statthaft«.
Ich glaube, sie ist eine ehemalige Anwohnerin, die die penetrante Lärmsoße nicht mehr ausgehalten hat und ein Opfer der nervlichen Belastung wurde. Nun schleicht sie jeden Abend herum und führt ihr letztes Gefecht gegen die feindliche Invasion aus dem Ausland, das sie aber schon lange verloren hat.
Mikroökonomie
»Pfoten weg, du alte Schachtel«, scheucht der Mann mit dem schwarzen und nach hinten gegelten Haar die »alte Schachtel« weg, die die neben ihm akkurat aufgereihten leeren Bierflaschen einsammeln will, denn das ist sein Leergut, das ist das Geld für sein nächstes Pils. »Was du wollen mit die ganze Flasche leer? Du besser arbeiten«, gibt es ihm die »alte Schachtel« zurück, während der Mann mit orientalisch gemusterten Hosen, deren Schritt irgendwie kurdisch in der Kniekehle hängt, versucht, ihr auf den Hintern zu klopfen. Aber da er im Schneidersitz auf dem Boden hockt, ist er nicht beweglich genug. »Haust du endlich ab, du Blindschleiche«, legt er nach, weil die »Blindschleiche« weiterhin so tut, als wolle sie ihm die Flaschen vor der Nase wegschnappen. Sie kabbeln sich auf freundschaftliche Weise.
Aber es gibt auch den grantigen alten Muffel, der mit einer großen Ikea-Einkaufstüte unterwegs ist und dabei ahnungslose, über die Revierkämpfe nicht informierte neue Sammler angiftet. Sechs ältere, weißhaarige Frauen zähle ich, die über die Brücke streifen, seitdem sie zum Treffpunkt junger Touris geworden ist, für die es das Größte ist, ganze Nächte damit zuzubringen, auf dem Bordstein oder am Brückengelände zu sitzen und zu trinken.
Sie haben eine Art Mikroökonomie ins Leben gerufen, oder vielleicht besser Elendsökonomie. Zu den Flaschensammlern hat sich auch eine Cocktailmixerin gesellt. Sie hat eine kleine Kühlbox dabei und ein wackliges Beistelltischchen, ist mit Minze, Zitrone und crushed ice rudimentär mit Beilagen ausgestattet, und schüttelt in Plastikbechern etwas zurecht, das Mojito sein soll. Ich probiere es lieber nicht. So risikofreudig bin ich auch wieder nicht.
Fünfzig Meter weiter in der Admiralstraße brennt ein Auto. Eine Art neuer Freizeitgestaltung Berliner Jugendlicher, die mit dem Herumlungern auf der Brücke nicht so richtig ausgelastet sind. Polizei rennt über die Brücke zum Tatort, Feuerwehr lalüt um die Kurve.
Die Frau rührt ungerührt zwei Flüssigkeiten zusammen und bewegt ganz professionell zwei ineinandergesteckte Plastikbecher rhythmisch über der Schulter. Leider setzt sich ihre Geschäftsidee nicht durch, denn die jugendlichen Herumlungerer bleiben beim Billigbier. Autos aber werden weiterhin abgefackelt.
Terrorismus
Der Reporter der heute-Nachrichten berichtet live aus Mallorca über den Anschlag der ETA, bei dem zwei Polizisten in die Luft gesprengt wurden. Die Kamera zoomt auf ein paar schaulustige Touristen mit Schlabbershorts, die breitbeinig herumstehen und glotzen. Man sieht sie von hinten, und ich frage mich, ob der Kameramann mit dieser Einstellung womöglich ein bisschen Sabotage betreibt. Und auch der Reporter scheint etwas verwirrt: »Eine deutsche ... äh, deutliche Absage an den Terrorismus.«
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