»Na, was willst du denn mal werden?« Die Standardfrage, mit der jedes Kind gepeinigt wird, oder motiviert, je nachdem, diese Frage konnte er ohne rumzurudern beantworten.
»Seemann. Steuermann.« Zehn Jahre lang. Andere gehen durch die Stadien ihrer Berufswahl. Erst Feuerwehrmann, dann Lokomotivführer wie sein Freund Ede, den sie »Laubfrosch« nannten wegen des grünen Anzugs, den Edes Mutter handgenäht hatte in diesen schweren Zeiten. Edes Opa war bei der Bahn; Ede spielte mit Modelleisenbahnen. Er, sein Freund malte Schiffe.
Dann kam Inge in sein junges Leben. Inge war seine erste Liebe und hatte keine Lust, ihr Leben als Dauer-Strohwitwe zu verbringen. »Wenn du auf See bist, dann bin ich ja immer alleine.« Recht hatte sie. »Was mach ich denn da?« Inge war gerade sechzehn und dachte weiter als bis zum Horizont.
»Stimmt, da hast du Recht.« Er dachte nach. Die Kastanienbäume blühten auf der Allee zum Schloss, er atmete ihren Duft ein. Inges Duft. Er liebte ihren Geruch.
Zwei Minuten später warf er den Traum seiner ganzen Kindheit über Bord. »Dann werd ich eben nicht Seemann.«
Liebe macht blind, aber sie bewahrt einen vor der Seekrankheit.
Sie standen vor dem Möbelgeschäft am Herderplatz und sahen die Nierentische. Die Schwanenhals-Lampen im Trio und das türkise Sofa. Noch drei Jahre bis zum Abitur, noch drei Jahre, bis die Glocken läuten würden.
Die Rock’n’Roll Heros ihrer kleinen Stadt ließen es krachen. Was man so krachen nannte in der Zeit, bevor 120 Dezibel das Maß aller Dinge wurden. Der Spruch »If the music’s too loud, you’re too old« war noch weit weg. Sie tanzten engumschlungen zu Schmuseklängen; er renkte ihr den Arm aus und trat ihr auf die Füße beim Rock’n’Roll der ersten Stunde, und sie waren glücklich.
Er hatte keine Ahnung, was er nun statt Seemann werden sollte. Inge war alles recht, solange es ihn in ihrer Nähe hielt.
Tanzstunde. Geht heute noch jemand zur Tanzstunde?! Wer nicht geht, verpasst die Romantik der ersten Liebe. Der Konfirmationsanzug tut‘s noch, dachten die Eltern, aber er sah in den Hochwasserhosen aus wie Elvis für Arme. Zehn Zentimeter ist er gewachsen in den zwei Jahren. Inge jedenfalls hatte ein Tanzstundenkleid und sah aus wie eine Braut. Schön.
Wieder gingen sie am Schaufenster mit den Nierentischen vorbei. Träumten, küssten sich, und noch immer wurde er nicht Seemann, noch immer wusste er nicht, was er werden sollte. Der Traum der ersten Jahre verblasste irgendwo zwischen Nirwana und Abitur.
Zwanzig Jahre später. Klassentreffen. Die Nierentische stehen irgendwo rum, wahrscheinlich bereits auf dem Flohmarkt, Inge trägt eine Perlenkette und ist immer noch schön. Und sie hat einen Eherring am rechten Ringfinger.
Er nicht.
Im ICE zwischen Hamburg und Berlin, 28. 11.01
Miles Davis und die Eintagsfliegen
Die Aula der Schule war gerammelt voll; das lag nicht an uns, das lag am Datum. Rosenmontag. Die Goethestadt Weimar war nicht gerade berühmt dafür, eine Karnevalshochburg zu sein, aber die Faschingsfeste der Hochschule für Architektur, der Nachfolgeinstitution des legendären Bauhauses, diese Fêten waren berühmt und berüchtigt zwischen Ostsee und Thüringer Wald.
Also war’s nicht verwunderlich, dass an diesem Rosenmontag auch die Schiller-Oberschule aus den Nähten platzte. Ich war in der neunten Klasse, fast vier Jahre noch bis zum Abi und hatte ein paar Rock’n’Roll-begeisterte Klassenkameraden überredet, eine Band zu gründen. »Gründen«? Wir wollten nur an diesem einen Abend spielen, an eine Musikerkarriere dachte niemand, ergo hatten wir den passenden Namen gefunden, »Die Eintagsfliegen«.
Ich hatte mir ein paar Texte aus den Fingern gesaugt, die an Kühnheit und Frechheit damals Ihresgleichen suchten. Kabarettistisch, politisch; auch die Lehrer kriegten ihr Fett weg. Welcher Lehrer mit welcher Lehrerin ins Bett stieg, und lauter so schöne Sachen eben. Als Melodien hatten wir uns gängige Popsongs rausgesucht; noch heute denke ich, wenn ich (was selten genug vorkommt) Harry Belafontes »Bananaboat Song« höre an den folgenreichen Auftritt weiland. Es war in der Tat der Start meines späteren Musikerlebens.
Der Kasus Knacktus war allerdings, keiner von uns konnte ein Instrument spielen. Damit wir wenigstens irgendwelche Akkorde, irgendwelche Harmonien unter den Gesängen hatten, nahmen wir einen Kumpel aus der Zehnten in die Band. Der konnte eine Gitarre richtig halten und drei oder vier Akkorde greifen. Und mein Freund Bob spielte zwar die Mondscheinsonate auf dem Klavier, aber was hätte uns das helfen können!? Also setzte sich Bob ans Schlagzeug, und das ging einigermaßen. Das Wort Groove konnten wir damals noch nicht mal buchstabieren.
Ich hatte irgendwann mal gehört, dass man ein Waschbrett zum Musikmachen verwenden könnte. Von Skiffle Music hatten wir noch nicht gehört; dass man sich ein paar Fingerhüte aufstecken und damit rhythmisch auf den Rillen kratzen musste – das war uns fremd. Wir hatten schlichtweg keine Ahnung – aber wir waren innovativ und kreativ und heiß. Wir nagelten zwei Waschbretter auf Besenstiele und kloppten mit der flachen Hand drauf.
Ein Novize am Schlagzeug, ein Gitarrero, der den Ton angab und zwei Waschbrettklopfer, das war meine erste Band. Das waren »Die Eintagsfliegen«.
Wir wurden angekündigt, kamen auf die Bühne und starteten mit einem furiosen Werk der jungen Rockgeschichte. »Rock Around The Clock« von Bill Haley and the Comets. Das war die Hymne der Rock’n’Roll-Generation. Noch heute krieg ich dieselbe Gänsehaut wie damals, wenn der Mann mit der Schmalzlocke die ersten Töne intoniert: »One two three o’clock, four o’clock rock…« Und Englisch konnte auch keiner, man sang irgendwelche Laute, die so ähnlich klangen, wie bei Bill Haley, das genügte.
Aber der Clou waren unsre zwei Saxophone. Aus Pappe. Rote Karnevalströten, in die wir mit voller Power reinröhrten. Das war rohe Energie, das war ehrlich, das war Punk. Prä-Punk.
»Rock Around The Clock« war also der erste Song unseres ersten Auftritts. Was dann kam, war unerwartet. Ein ohrenbetäubener Lärm brach aus. Johlen, Pfeifen, Trampeln, mir fiel das Gesicht runter. Neu im Showbusiness wie ich war, dachte ich, Scheiße, die pfeifen uns aus. Es dauerte ein paar lange Sekunden, bis wir alle begriffen, wir hatten die Aula in unsrer Hand. Sie feierten uns!
Mein Bruder Wolfgang brachte mir die ersten Griffe auf der Gitarre bei.
Dann kamen die Songs mit den gemeinen Texten, es war ein Volksfest; schöner kann man sich seinen ersten Gig nicht wünschen. Die Folgen an den nächsten Tagen allerdings waren lächerlich: die Lehrer reagierten sauer, besonders der Direktor; ich kriegte im Zwischenzeugnis eine Vier in Betragen; sowas Albernes wie »Betragen« gabs tatsächlich weiland in der Braunkohlezeit. Aber wir wurden dann auch wochenlang gefragt, wann wir unseren nächsten Auftritt hätten. Wir hatten plötzlich Fans. Also nix da mit »Eintags«-Fliegen.
Der nächste Gig kam, mein Bruder war im Publikum, und ich kriegte einen brüderlich-kreativen Anschiss. »Du siehst sowas von beschissen aus auf der Bühne,« sagte er, »so linkisch am Mikrofon. Mal steckst du die Hände in die Taschen, dann versteckst du sie hinter’m Rücken.« Inzwischen hatte ich das Stehwaschbrett stehen lassen wo’s hingehörte; weit weg von der Bühne, ich war nur noch Sänger. »Du brauchst ‘ne Gitarre, damit du was in der Hand hast; wir kaufen jetzt eine Gitarre.«
Wir legten unsere paar Mark zusammen und kauften im Musikhaus Kendel eine Schlaggitarre, schwarz-rot. Ein heißes Teil. Mein Bruder spielte allerlei Instrumente, auch Gitarre, aber er war die meiste Zeit weit weg von zu Hause. Wer sollte mir das denn jetzt beibringen?
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