Am Bahnhof wurde ich der Obhut irgendwelcher Erwachsenen übergeben, die sich auch um meine Weggefährten kümmerten, und dann stiegen wir ein in einen kalten Zug mit harten Holzbänken; die Koffer wurden in die altmodischen Gepäcknetze gehievt, und mit Geheul und fürchterlicher Rauchentwicklung zockelte der Zug nach Norden. Einen ganzen Tag lang ratterten wir durch ein kleines Land, das sich gerade von den Bombenschäden zu erholen versuchte. Die frühen Fünfziger waren eine emsige Zeit für die Überlebenden des Grauens.
Nach endlosen Stunden rumpelte der Zug ein in Sellin auf der großen Insel Rügen; ich kann mich nicht erinnern, wie oft wir umsteigen mussten, aber es waren mit Sicherheit einige Male. Es war schon wieder dunkel, unser kleines Grüppchen tippelte Richtung Kindererholungs-heim, und ich merkte sofort, hier roch’s anders als in Weimar. Frischer. Ich hatte von Seeluft bisher nur gehört.
Ein mitfühlender Arzt hatte meinen Eltern die Möglichkeit verschafft, den wachsenden, dünnen Jungen ein paar Wochen lang aufpäppeln zu lassen und verschrieb mir eine Kur. Ich war pudelgesund, aber der Doktor meinte, das würde mir gut tun. Und ein Esser weniger würde das schmale Familienbudget für ein paar Wochen entlasten. Das Heimpersonal allerdings wunderte sich überhaupt nicht, was für Mengen ich in mich reinzustecken imstande war. Zehn belegte Scheiben Brot am Abend war ganz normal; die Küche hatte keinen Mangel an Proviant. Meine ganze Kindheit lang hab ich gegessen wie ein Scheunendrescher, meine Mutter sagte immer; »Am Essen wird nicht gespart.« Erst viel später hat sie mir auf ein paar bohrende Fragen hin gestanden, dass sie und mein Vater öfter mal hungrig ins Bett gegangen sind, damit wir Jungs satt werden konnten in den Nachkriegsjahren, die mit ihren immer zu knapp bemessenen Lebensmittelkarten den Überlebenden wahren Erfindungsreichtum abverlangten.
Ich war schon immer ein Geruchsmensch. Gerüche haben sich immer in Verbindung mit dem jeweiligen Ort eingenistet in mein Langzeitgedächtnis. Hier im Heim roch’s intensiv nach Kernseife, Bohnerwachs, Desinfektionsmittel und Suppe. Die Beleuchtung war funzelig, die Glühbirnen waren auf sparsame 25 Watt reduziert. Aber es war eh dunkel in diesen Jahren; ich habe oft meine Hausaugaben beim Scheine der gemütlichen Petroleumlampe gemacht, wenn mal wieder Stromsperre war, damit die volkseigene Planwirtschaft genügend Energie hatte, um den Kapitalisten im Westen zeigen zu können, auf welcher Seite der grünen Grenze der bessere Staat lag. Der Geruch einer Petroleumlampe ist mir bis heute vertraut und verbindet sich mit meiner Kindheit. Durchaus positiv.
Und dann kam der große Moment. Am Morgen nach dem Frühstück ging’s ans Meer. Da lag sie, die riesengroße Ostsee; die Wellen rollten, die Fischerboote waren an den Strand gezogen, und ein paar Fischer hatten ihre Netze gespannt und flickten sie. Es roch nach allem, was mein abenteuerlustiges Thüringer Kinderherz erfreuen konnte. Es war überwältigend. Hinterm Horizont ging’s weiter, aber das konnte ich nicht sehen. Wasser, Wellen, Meer soweit man sehen konnte. Ich stand da, staunte, und der frische Wind blies in meinen offenen Mund. Am intensivsten hatte ich den Seetang in der Nase; Salz, Seetang, Sand; die Möwen kreischten und stritten sich um die Brocken, die die Fischer liegengelassen hatten. Teergerüche von den Spanten der Boote mischten sich in all die die wunderbaren Düfte hier.
Seit ich sieben war, wollte ich Seemann werden. Ich war fast am Ziel. Das war das wahre Leben hier. Sechs Wochen lagen vor mir, sechs Wochen Leben am Meer. Ich vermisste nichts; nicht die Stimme der Mutter, keine Kracher vom Vater und keine brüderlichen Fantasien um Hunde und Schätze hinter der Wand am Bett. Weimar war unendlich weit weg, Heimweh kam überhaupt nicht auf.
Wir durchstreiften die Gegend. Es war eine unbekannte Welt mit Mooren, einem geheimnisvollen See, Buchenwäldern und jeden Tag wieder der Strand. Wir suchten Bernstein, wühlten im angeschwemmten Seetang herum; es war jedes Mal aufregend, wenn man wieder einen gelblichen Stein gefunden hatte; aber dann wars eben doch nichts anderes als das, ein Stein. Die Taschen waren voll von sandigen Muscheln, die nach einigen Tagen einen gefährlich rottigen Geruch verströmten.
Unter der Seebrücke wars immer spannend, die Wellen liebkosten die Pfeiler, und ich verliebte mich. Nicht in eine Meerjungfrau, sondern in Gerlinde. Im Bett neben mir lag mein neuer Freund Ulli, und wir merkten, dass wir uns beide in Gerlinde verliebt hatten. Gerlinde hat das nie erfahren; sie hätte uns beide haben können, aber wir waren viel zu schüchtern, um sie einzuweihen in unsere Schwärmereien. Wir wären eh zu jung für sie gewesen, sie war ja schon elf.
Es wurde langsam winterlicher, der Nikolaustag kam, und wir kriegten kleine Leckereien. Eine Nuss hatte es mir besonders angetan, eine Walnuss. Ich hatte noch nie in meinem Leben eine Walnuss gegessen, oder ich hatte doch und erinnerte mich an den köstlichen Geschmack, ich weiß es nicht mehr, jedenfalls schenkte ich dieser Walnuss meine unerwiderte Zuneigung. Ich knackte sie nicht, ich trug sie mit mir herum, roch an ihr, leckte sie ab, versuchte, sie in meinen neunjährigen Mund zu stecken. Was für eine Köstlichkeit! Die Erinnerung an diese eine Walnuss hat mich mein Leben lang begleitet.
Und dann, Wochen später, fasste ich mir ein Herz und knackte sie. Ganz langsam, Viertel für Viertel steckte ich sie in den Mund und genoss, wie ich nie wieder eine Walnuss genossen habe.
Killarney, Irland, 30. Juni 2007
Ein Sommer an der Donau
Es war schon nach Mitternacht, als ich endlich in Rechtenstein ankam. Ich war zwölf und hatte eine endlose Bahnfahrt hinter mir. Ich hatte nicht nur ein Land diagonal durchquert, ein Land, das jetzt in zwei Teile geteilt war; man musste eine Grenze mit mürrischen Kontrolleuren überstehen, und man musste den Spagat von Ost nach West verarbeiten. Ich hatte vor allem Hunger wie ein Wolf und war müde wie Hund - und: ich war mutterseelenalleine.
Wo war Onkel Max?! Warum holte mich keiner ab?! Ich stand auf einem Dorfbahnhof irgendwo im Schwabenlande und fühlte mich verlassen von der Welt. Aber zwölf heißt nicht hilflos, irgendwo musste es ja hier Menschen geben. Irgendwer würde schon noch wach sein.
Ich schleppte meinen Koffer vom Bahnhof und ging zu einem Haus, das wie eine Wassermühle aussah. Stockdunkel alles. Also klopfte ich sanft an ein Fenster. Tatsächlich steckte der Müller seinen verschlafenen Schwabenkopf aus dem Fenster.
»Entschuldigen Sie die Störung, wie komm ich denn nach Mittenhausen?«
»Jetscht no? Mhm, da musst du durch de Wald. Da no.«
»Ist das weit?« fragte ich ein bisschen verzagt.
»Ha noi, des is it weit. So zwei Kilometer sind das, nit mehr. Mittehause hat nur drei Höfe, zu wem willscht du denn?«
Ich sagte es ihm. »Die wohnet da mittedrin, du wirscht es scho finde.« Er erklärte mir noch wortreich, worauf ich achten müsse und sagte Gute Nacht.
Und dann stand ich vor der Mühle wie das Männlein im Walde. Ich hatte ein bisschen gehofft, dass er mich hinbringen würde. Nun musste ich mich alleine auf den Weg machen. Ich tappste in den finsteren Wald hinein. Es hatte geregnet, meine einzige Orientierung in der mond- und sternenlosen Nacht waren die schwachen Reflektionen in den Pfützen. Auch als Erwachsener geht man nachts nicht gern alleine durch den Wald, für einen Zwölfjährigen war es Horror pur. Ich fühlte mich von aller Welt verlassen und betete, dass ich aus dem großen, dunklen Walde raus fände und mich vor allem nicht verirrte in diesen fremden Jagdgründen. Mir kamen all die Räubergeschichten in den Sinn, die man zu Hause unter der Bettdecke mit der Taschenlampe so gerne liest im sicheren Schlafzimmer. Wilhelm Hauffs »Wirtshaus im Spessart« war noch ganz lebendig in meiner Erinnerung, nun war ich selber mittendrin in so einer Gruselgeschichte.
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