Nach einer Ewigkeit wurde es ein bisschen heller, das musste das Ende des Waldes sein; jetzt nur nicht vom Weg abkommen. Links lag ein Bauernhof, an dem sollte ich noch vorbei. Aber da schlug auch schon der Hofhund an. Wenn der frei rum läuft, bin ich verloren, dachte ich, aber er kam nicht, er bellte nur böse, das war ja sein Job.
Der Koffer zog wie Blei, und ich schleppte mich ganz langsam weiter, bis ich an eine Art Gutshof kam. War ich am Ziel? Was mach ich jetzt? Am besten rufen.
»Onkel Maaaaaax!!!« Nichts. Noch mal. »Haaaaaallo! Tante Geeeeertrud!«
Ein Fenster ging auf. »Wer ist da?« Inzwischen bellte ein ganzes Rudel schwäbischer Hofwölfe um die Wette.
»Bist du das Onkel Max? Hier ist der Reiner aus Weimar.«
»Ja Junge, wo kommst du denn jetzt her mitten in der Nacht? Im Brief von deiner Mutter stand doch, dass du morgen kommst.«
Inzwischen wurde es hell, die Tür ging auf, der Albtraum hatte ein Happy End, und Tante Gertrud machte mir erst mal was zu essen. Und man konnte gar nicht verstehen, dass der Müller von Rechtenstein mich hatte allein durch den Wald gehen lassen. Aber nun war ich ja da.
Mein Onkel und meine Tante hatten Krieg, Vertreibung und Flucht aus Oberschlesien überstanden und waren hier an der Donau gelandet. Hatten wieder einen kleinen Hof und arbeiteten hart, um im neuen Land und Leben auf die Füße zu kommen.
Am Morgen strich ich mit meinen beiden Cousins durch die Gegend und war begeistert. Es gab da einen zerfallenden Turm vom alten Rittergut mit Fledermäusen und verwunschenen Ecken, es gab Schweine, Kühe, Enten, Gänse und Hühner, Hund und Katz, und es gab ein Pferd, mit dem morgens die Milch nach Obermarchtal gefahren wurde. Ich hatte acht Wochen Schulferien auf dem Bauernhof, was kann es Schöneres geben!?
Zu meinen täglichen Pflichten gehörte es, die Enten an die Donau zu treiben. Und damit sie da nicht die Freiheit missbrauchten und abhauten, kamen sie in einen großen Drahtverhau, nach oben geschlossen, damit der Habicht nicht die Küken holte. So konnten sie schwimmen und das machen, was Enten am liebsten tun. Schnattern und Gründeln. Eine Woche später stieg die Donau an, meine Enten schwammen samt Käfig stromabwärts Richtung Schwarzes Meer, und Onkel Max warf den Traktor an. Es dauerte zwei Stunden, bis wir sie wiederhatten.
Nun gab es da ein einsames Entlein namens Simpel. Das war von einem Huhn ausgebrütet worden, einer Henne. Samt ihren leiblichen Küken. Simpel wurde zum Entsetzen der Pflegemutter in den Entenschwarm eingereiht und ging baden. Die Henne tanzte auf und ab, schlug mit den Flügeln und war außer sich. Ich versuchte, ihr Simpels wahre Natur zu erklären. Nach drei Tagen war sie beruhigt.
Nur Tante Gertrud war unzufrieden. Es gab einen nutzlosen Esser am Hofe. Seit Tagen holte sie immer Eier aus dem Hühnerstall, unter denen sie ein kleines, dotterloses Ei fand. Kleine Eier ohne Dotter, man kann sie nicht verkaufen, man kann sie nicht verwenden.
Tante Gertrud befand, das schuldige Huhn müsse gefunden werden und sollte in die Pfanne. Also wurden mein Cousin Eckartund ich beauftragt, die Henne ausfindig zu machen. Unter zwanzig Legegenossinnen auf dem Hofe! Die Aktion Dotterlos begann damit, dass wir im geschlossenen Hühnerstall jedes Huhn befummeln mussten, sprich, jedem Huhn den Finger ins Legeloch stecken, um zu tasten, ob da ein Ei drin steckte, bereit, gelegt zu werden. War das Loch leer, kam die Henne raus ins freie Leben. Die legebereiten Hühner wurden einzeln in Verschläge gesperrt, und wir hatten zu kontrollieren, ob ein Ei im Heu lag. War das Ei ein richtiges Ei, durfte auch die entleerte Henne draußen scharren.
Wir haben drei Tage lang unseren rechten Zeigefinger in Hühner-arschlöcher gesteckt – und dann hatten wir sie. Mir tat sie leid, die arme Henne, aber geschmeckt hat sie dennoch.
Am liebsten war ich im Kuhstall. Und steckte dem Kälbchen meine Hand ins noch zahnlose, rosige Maul, es saugte an meinen Fingern, freute sich ob meiner Zuneigung, auch wenn keine Milch raus kam. Ich schaute Tante Gertrud beim Melken zu, eine Melkmaschine hatten sie noch nicht. So schwer kann das doch nicht sein, dachte ich mir.
»Darf ich auch mal?«
Tante Gertrud lächelte wissend und machte den Melkschemel für mich frei. Ich zupfte, zog und zerrte; kein Tropfen kam. Dafür haute mir die Liese ihren bekleckerten Schwanz um die Ohren, wehrte sich vehement mit dem Hinterbein; es war ihr offenbar sehr unangenehm, was ich da mit ihrem empfindlichen Euter machte, und ich überließ die Kunst lieber wieder den geschickten oberschlesischen Händen der Bäuerin. Dafür durfte ich dann meinem Cousin Manfred helfen, die Milchkannen sauber zu machen; der Lohn war die Fahrt mit dem Pferdewagen zur Molkerei ins Nachbardorf.
Mein Onkel hatte einen Dachs erlegt. Warum man einen Dachs nicht leben lassen kann, war mir nicht klar, jedenfalls hing er tot am Scheunentor. Hunderte von Flöhen versuchten, den kalten Körper zu verlassen, wussten aber nicht so recht wohin und hüpften sinnlos auf den Dachshaaren rum. Jedenfalls haben wir dann seinen Kopf in einen Ameisenhaufen gesteckt. Eine Woche später haben wir den sauber abgenagten Schädel wieder mitgenommen. Ich hörte später, dass Wilddiebe das auch gerne mit dem ganzen Förster gemacht haben. Lebend.
Nun war ich ja das erste Mal im Westen. Und freute mich an all den Dingen, die wir im östlichen Weimar nicht hatten. Meine erste Coca Cola war ein Hit, bis heute denke ich immer, wenn ich mal das Glück habe, aus einer originalen Cokeflasche zu trinken - das gibt’s ab und zu noch - wow, wie damals in Obermarchtal bei Edeka.
Nicht so beliebt war die Arbeit im Kartoffelschuppen. Die Kartoffeln vom Vorjahr hatten lange Keime, und die mussten entfernt werden, damit die Kartoffeln als Schweinefutter gekocht werden konnten. Da war’s duster, und da gabs Ratten. Eines Tages fanden wir ein Nest unter den Kartoffeln mit kleinen nackten Ratten. Bauern haben wenig Verwendung für Ratten, auch keine so gute Beziehung zu ihnen; den Rest der Geschichte hab ich verdrängt.
Irgendwann ließ mich Onkel Max auf den Trecker. Sehr aufregend war das, übers Feld zu donnern mit zehn Stundenkilometern, aber es war meine erste Erfahrung mit einem motorisierten Fahrzeug und ich freute mich. Und so leicht war das gar nicht mit den verwirrend vielen Gängen und Pedalen. Es fing an zu donnern, und dann krachte ein schönes, fettes Sommergewitter über uns nieder. Auf freiem Feld ist das nicht die große Freude, Traktor fahren vorher fand ich wesentlich schöner, aber es war ein elementares ländliches Erlebnis, dass mich sehr beeindruckt hat.
Am allerschönsten aber war’s auf dem Heuboden. Der Geruch von frischem Heu, die Leichtigkeit, wenn man aus mehreren Metern Höhe runterspringt und versinkt, Staub wirbelt auf, man niest - von Heuschnupfen und derlei zivilisatorischem Firlefanz wusste ich damals noch nichts - das hab ich sehr geliebt damals. Da gab’s Mäuse, und irgendwie war das der große Renner, der Heuboden.
Ende August war die Herrlichkeit zu Ende, ich fuhr wieder nach Weimar und überraschte Familie und Schulkameraden mit einer Mischung aus Oberschlesisch und Schwäbisch. Und jedes Mal, wenn dann zu Weihnachten eine Ente nach Weimar geschickt wurde aus Mittenhausen, hab ich immer gehofft, dass es nicht der Simpel ist, den wir da verspeisen.
Killarney, Irland 1. Juli 2007
Sweet little Sixteen
Seemann wollte er werden. Kapitän, oder Steuermann. Irgendwie klang Steuermann besser. Steuermann ist wichtiger als Kapitän. Ein Kapitän befiehlt nur rum, der Steuermann aber macht das Ding. Er ist eindeutig der Macher an Bord. Sagte ihm seine kindliche Seele und ließ ihn Schiffe malen. Aus Lexika, aus Abenteuerbüchern; kein Abbild eines Schiffes war vor ihm sicher. Aber es mussten Segelschiffe sein, am liebsten malte er die »Gorch Fock«. Nichts unter einem Dreimaster. Und er las jedes Buch, in dem ein Segel gerefft wurde.
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