Mittlerweile handelt es sich zumeist um posthume Familienfürsorge. Auch der Vater des Bundespräsidenten, der ehemalige Staatssekretär mit hohem SS-Rang, kommt nicht in die Lage, das vom Sohn erneuerte juristische Beistandsangebot anzunehmen. Erstens ist er tot, und zweitens interessieren sich, so wie die Dinge liegen, die deutschen Gerichte bestimmt nicht für ihn. Wahrscheinlich würde er als Widerstandskämpfer anerkannt und trotzdem eine Pension beziehen. Denn nach eigener Aussage war seine Mitgliedschaft in NSDAP und SS ein persönliches Opfer, um das Schlimmste zu verhindern, das er gerade durch seine Tätigkeit im Auswärtigen Amt damals anrichtete.
Auch der Bundespräsident will immer das Schlimmste verhindern. Er ist die personifizierte Begrenzung des Schadens, den alle um die Familienehre, will heißen um die Reputation der Bundesrepublik Besorgten, abwenden wollen und doch so zielsicher herbeiführen. Und am Ende kommt immer heraus, was angeblich keiner gewollt hat: zum Beispiel die neue Lust am historischen Schuldbekenntnis der Deutschen.
Horkheimer diagnostizierte 1960 das »kleinlaut und formell gewordene Schuldgetue«, welches nur die Funktion habe, sich »zum rechten Patriotismus wieder das gute Gewissen zu machen«. Nach den tapsigen Auftritten des Kanzlers in Israel, in Bitburg und Bergen-Belsen hat sich kleinlaute Verdrücktheit in die stolze und vollmundig selbst von Helmut Kohl verkündete Einmaligkeit der deutschen Verbrechen verwandelt. Vor der als Historikerstreit bekannt gewordenen Ausrede, der Massenmord sei eine Doublette gewesen, rangiert nun die Verteidigung des Urheberrechts, der Anspruch auf Originalität: Auschwitz bleibt deutsch. Als Verbrechen zwar, aber doch auch als unvergleichliche Spitzenleistung.
Mit dieser Erklärung hat sich der Kanzler die offizielle Eintrittskarte zur »Zentralen Gedenkveranstaltung« am 9. November 1988 in der Frankfurter Synagoge erworben. Nachdem er sich bislang nur blamiert und immer bloß der Bundespräsident gute Zensuren ausgestellt bekommen hat, möchte er sich nun öffentlich bestätigen lassen, dass einige seiner besten Juden die Freunde der Deutschen seien.
Der inoffizielle Passierschein, mit dem der Kanzler zur Feierveranstaltung der neuen deutsch-jüdischen Symbiose durchgelassen wird, sieht hingegen anders aus – nämlich wie ein Bankauszug des verstorbenen Zentralratsvorsitzenden der Juden. Im Feudalismus wurden die Hofjuden physisch bedroht, damit sie den Finanzhaushalt des bankrotten Fürsten in Ordnung brächten; die Hofjuden, die sich die Bundesrepublik hält, werden finanziell unter Druck gesetzt, damit sie den angegriffenen Seelenhaushalt der Gesellschaft ausgleichen. Ihr oberster Funktionär hatte nämlich etwas getan, wovon abgestuft die ganze Bevölkerung seit der Nazizeit profitiert, und war in die Rolle des Vernichtungsgewinnlers geschlüpft, was deshalb als besonders skandalös galt, weil es ihn, wenn die Deutschen noch genügend Zeit gehabt hätten, eigentlich gar nicht mehr hätte geben dürfen. Als Werner Nachmanns 1Unterschleif bekannt wurde, meldeten sich sofort besorgte Politiker und warnten davor, das Vergehen dieses Nachahmungstäters antisemitisch auszuschlachten. Damit waren sie bereits zum Symptom der Krankheit geworden, die sie verhindern wollten.
Und so kommt Kohl nach Frankfurt. Weil er will, was alle wollen, nämlich die ganze deutsche Geschichte, ist die Kritik verstummt. Die Kritiker haben sich in bekennende Historiker verwandelt. Mit der Konkursmasse aus einer neuerlichen Pleite, nämlich mit den Trümmerstücken des friedensbewegten Patriotismus, beteiligen sie sich fleißig am Wiederaufbau der Nationalgeschichte. Sie wollen auch nichts anderes als Deutschland, nur Deutschland anders. »Die deutsche Geschichte – dreigeteilt niemals!« ruft es aus dem Kanzleramt, und aus dem Westberliner Arbeitszimmer Peter Schneiders schallt es zurück: »Es muss endlich ein Ende haben mit dem gekrümmten Gang. Die deutsche Geschichte ist länger als zwölf Jahre ...«
Einige Jahrzehnte vor Auschwitz hatte sein Dichterkollege Börries Freiherr von Münchhausen, der in keinem Schullesebuch fehlt, eine stimmige poetische Metapher für die deutsche Traditionsbildung gefunden – die Lederhose: »Ja – Geschlechter kommen, Geschlechter gehen, / hirschlederne Reithosen bleiben bestehen.«
Mit der nationalen Wiedergutwerdung der Deutschen, die am 9. November 1988 in der Frankfurter Synagoge jüdisch abgesegnet wurde und die Verwandlung der Bundesrepublik in Deutschland abschließen soll, werden andererseits die Juden aus dem runderneuerten Kollektiv, vor dem sie schon heute mit bewaffneter Polizei geschützt werden müssen, ausgeschlossen. Manchmal explodiert schon heute ein Sprengsatz in einem Gemeindezentrum; aber abgesehen davon ist, wie Politiker immer wieder versichern, das Verhältnis von Deutschen und Juden ganz normal.
Als Antwort auf die Mutation von deutschen Linken in linke Deutsche haben sich jüdische Linke in linke Juden verwandelt. Zu welch vergleichbar komischen Resultaten diese Veränderung geführt hat, liest man gelegentlich in der taz , wenn ohne Arg über jüdisch-christliche Andachtsrituale von Linken berichtet wird, die sich vorzugsweise in evangelischen Akademien treffen, um sich nach dem gemeinsamen Kiddusch ans heitere Beruferaten »Was bin ich?« zu machen.
Diese Frage beantwortet in einer eigens zu diesem Zwecke gegründeten Zeitschrift namens Babylon Dan Diner mit einer Variation auf das seit der Friedensbewegung in Deutschland beliebte Rollenspiel, sich für das Opfer zu halten, indem er sich als Max Horkheimer verkleidet und darauf hofft, man werde ihn verwechseln: »Wir jüdischen Intellektuellen, die dem Märtyrertod unter Hitler entronnen sind, haben nur eine einzige Aufgabe«, zitiert er aus den »Notizen« als blicke er in einen Spiegel. Herausschaut aber das austauschbare Gesicht der A13-Kultur. Nicht dem Märtyrertod ist er entronnen, entkommen ist er der Frankfurter Szene, was ja auch eine glückliche Schicksalsfügung sein kann. Vor Jahren schrieb er im Westend über den Nahen Osten ein Buch mit dem Titel: »Keine Zukunft auf den Gräbern der Palästinenser«, was nicht persönlich gemeint war: heute ist er Professor in Tel Aviv.
In der Bundesrepublik sind zum Jubiläumsjahr der »Kristallnacht« alle fleißig am Graben, Recherchieren, Renovieren und Publizieren, um sich mit der wiedergefundenen Einzigartigkeit der deutschen Geschichte über die eigene Mittelmäßigkeit hinwegzutrösten. Ein halbes Jahrhundert nach der wirtschaftlichen Ausplünderung der Juden, die 1938 einen Höhepunkt erreicht hatte, sind die Vertriebenen und Ermordeten zum Material einer gemeinnützigen Wachstumsindustrie geworden: There is no business like Shoahbusiness.
Die »Wiederjudmachung Deutschlands«, wie die Allgegenwart jüdischer Themen in den Medien von jenen bezeichnet wird, die in regelmäßigen Abständen den Deutschen erklären, dass Auschwitz kein Sanatoriumsaufenthalt für sie war, ist inzwischen zu einem flächendeckenden Arbeitsbeschaffungsprogramm geworden. Keine Gemeinde ist mehr ohne Judenreferent, jeder Sender hat seinen Vernichtungsexperten – die Nazis hätten sich die Finger nach so viel Fachleuten geleckt. Durch deren vereinigte Anstrengung gibt es zwar in der Bundesrepublik nicht weniger Antisemiten, nur weniger Arbeitslose, aber es wird durch sie noch einmal bestätigt, was zur Erfahrung der letzten Jahrzehnte gehörte: dass Erinnerung in Deutschland die höchste Form des Vergessens darstellt. Ihr Modell ist, vom Ende des Hauptbeteiligten abgesehen, der Eichmann-Prozess.
Nach seiner Festnahme in Argentinien wurde Eichmann aufgefordert, eine Erklärung zu unterschreiben, er sei einverstanden, vor ein israelisches Gericht gestellt zu werden. Diese Erklärung unterzeichnete er erst, nachdem er deren Sprache seinem grammatikalisch verkorksten Amtsdeutsch anverwandelt und ihr eine kuriose Bitte hinzugefügt hatte: »Nachdem ich mich nicht an alle Einzelheiten mehr erinnere und auch manches verwechsle und durcheinanderbringe, bitte ich, mir dabei behilflich zu sein, durch Zurverfügungstellung, durch Unterlagen und Aussagen, die meinen Bemühungen, die Wahrheit zu suchen, behilflich zu sein.«
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