Im Sommer 1995 fiel Eike Geisel in ein Koma, aus dem er nicht wieder erwachte. Er starb am 6. August 1997. Am 1. Juni 2015 wäre er 70 Jahre alt geworden. Er liegt auf dem Friedhof Stubenrauchstraße in Berlin-Friedenau in unmittelbarer Nähe von Marlene Dietrich, die er bewunderte und die bis über ihren Tod hinaus in Deutschland als Verräterin galt. Ich glaube, das hätte ihm gefallen.
Klaus Bittermann
Eike Geisel, 1984 - Foto: Wolfgang Pohrt
Runder Tisch mit Eichmann
Über den kleinen Unterschied zwischen dem »anderen Deutschland« und der zivilisierten Welt
1984 wurde Joshua Sobols »Getto« in Deutschland zum ersten Mal aufgeführt. Seitdem wissen zumindest das deutsche Theaterpublikum oder die Leser des Spiegel , dass eine »Art Wahlverwandschaft zwischen Opfer und Henker« existiert hat. Erst 1994 wurde dieser Gedanke zu Ende gedacht. Erst in diesem Jahr wurde die logische Entsprechung zum moralisch zweifelhaften Opfer gefunden: der moralisch zweifelsfreie Täter. Und die Entdeckung des Jahres ist deshalb der »gute Nazi«. Vorher war diese Formel als Verdikt in Gebrauch. Bezeichnet wurde damit das besonders rührige Mitglied einer kriminellen Vereinigung. Seit Oskar Schindler – außen Nazi, innen gut – weiß man es besser. Und dieser Einzelfall hat Appetit auf mehr gemacht. Nach dem Deutschen, der gut sein konnte, weil er besser verdiente, sollten nun aus besonderem Anlass jene Deutschen gefeiert werden, die ein weiches Herz hatten, das unter einem Eisernen Kreuz schlug. Man steckte Schindler in eine Uniform und ließ ihn in Kompaniestärke zum 50. Jahrestag der Offiziersrevolte gegen Hitler als Repräsentanten des »anderen Deutschland« antreten.
Am 20. Juli 1994 wurde in Berlin an historischer Stätte ein ganz besonderer Staatsakt zelebriert. Der Bundeskanzler, immer auf symbolische Gesten erpicht, ob auf den Schlachtfeldern von Verdun oder auf dem Soldatenfriedhof in Bitburg, hatte sich für die historische Feierstunde eine besonders reizvolle Zeremonie ausgedacht. Auf dem Hof des Gebäudes, wo vor 50 Jahren ein Füsilierkommando unter dem Befehl »Legt an!« einige der Verschwörer noch am Abend des missglückten Attentats auf Hitler erschoss, brachte das Wachbataillon der Bundeswehr bei der Gedenkfeier die Gewehre in Anschlag: »Präsentiert das Gewehr«. Ein uniformierter Musikzug blies einen preußischen Armeemarsch dazu.
Mit den jährlichen offiziellen Feiern zum 20. Juli war man bislang nicht besonders erfolgreich gewesen. Die Anteilnahme am Schicksal der militärischen Verschwörer war so gering, wie die Kenntnis antifaschistischer Widerstandsaktionen von Kommunisten oder Sozialdemokraten mangelhaft war. Generationen von Schülern der Bundesrepublik gähnten an diesem Tag, wenn ihre Geschichtslehrer den Versuch unternahmen, ihnen die Generäle und Offiziere des 20. Juli pädagogisch schmackhaft zu machen. Man sollte sie schätzen lernen als eine Art Rote-Kreuz-Truppe, als Vorläufer eines Kirchentagspräsidiums oder als frühe Kinkel-Initiative, weil es – wie dem Außenminister heute, wenn Türken in Deutschland angezündet werden – den Verschwörern schon damals hauptsächlich um das Ansehen des Staates im Ausland gegangen war. In einem für die Nazi-Wehrmacht gedachten Aufruf der Verschwörer hieß es 1944: »Wir müssen handeln, weil – und das wiegt am schwersten – in Eurem Rücken Verbrechen begangen wurden, die den Ehrenschild des deutschen Volkes beflecken und seinen in der Welt erworbenen guten Ruf besudeln.« Doch dass die Naziarmee keine Verbrecherbande, sondern ein Verein zur Veranstaltung von Abenteuerreisen gewesen war, das glaubte allenfalls noch die Bundeswehr. Selbst ein CDU-Minister gelangte trotz der jährlichen patriotischen Pflichtübung einmal zu der kurzlebigen Einsicht, dass Auschwitz nur so lange funktionierte, wie die Wehrmacht dafür die logistischen Hilfsdienste leistete.
Die Schüler begriffen nur, dass Aufstand in Deutschland eine ziemlich verschlafene Angelegenheit sein musste, wenn die endlosen Debatten und Denkschriften der Verschwörer ein »Aufstand des Gewissens« sein sollten. An diesem besonderen Tag wurde man als Jugendlicher regelmäßig mit Gewissenskonflikten von Leuten gelangweilt, die sich endlos damit abgequält hatten, ob sie Hochverrat üben, ihren Eid brechen oder Tyrannenmord begehen dürften. Sie hätten alle umstandslos geputscht, wenn der Führer es ihnen befohlen hätte. Aber leider lag kein Befehl dazu vor. Andererseits hatten sie keine sichtbaren Probleme damit gehabt, halb Europa in Schutt und Asche zu legen und Millionen von Menschen umbringen zu lassen. Sie hatten ein reines Gewissen, weil sie es nie benutzt hatten. Dass ausgewiesene Zerstörungs- und Vernichtungsexperten in genau dem Augenblick, als die Firma pleite ging und sie den Chef loswerden wollten, sich als absolute Dilettanten erwiesen, das konnte keinen nachhaltigen Eindruck bei jungen Leuten hinterlassen, die im Unterricht etwas über Julius Caesar, Ludwig XVI. oder den Zaren erfahren hatten. Sie mussten zu der Auffassung gelangen, dass die dramatische Hauptperson des Putschversuchs das Telefon war, denn die Protagonisten der Verschwörung kämpften hauptsächlich mit der Telefonanlage auf ihrer Büroetage im Oberkommando des Heeres. Ein Stockwerk tiefer war das Dritte Reich ungefährdet.
Mit vielen anderen, die die Erinnerung an den 20. Juli für einen nationalpädagogischen Auftrag halten, bedauert die Mitherausgeberin der Wochenzeitung Die Zeit , Gräfin Dönhoff, seit Jahren, »dass der 20. Juli 1944, der als moralisch-politische Tat weit herausragt aus der deutschen Geschichte, nie wirklich in das Bewusstsein eingegangen ist.« Mehr noch als heimische Gleichgültigkeit macht sie, die mit einigen der Verschwörer befreundet war und sich als Wahrerin des geistigen Erbes der Widerständler versteht, die westlichen Alliierten für das Desinteresse der Deutschen verantwortlich. Sie hat Engländern und Amerikanern bis heute nicht verziehen, dass diese die Militärs damals nicht als gleichberechtigtes Gegenüber, sondern als politische Bankrotteure betrachteten, weil die Offiziere von einem Großdeutschland, also vom Anschluss Österreichs und des Sudetenlands oder gar von der Rückgabe der Kolonien, träumten. »Im Ausland aber wurde die Existenz eines deutschen Widerstands von den Alliierten wider besseres Wissen geleugnet«, heißt es in ihrem Jubiläumsbuch »Um der Ehre willen«. Für ganz besonders ehrverletzend hält sie eine Erklärung Churchills, der im Sommer 1944 im Unterhaus gesagt hatte, bei den Vorgängen des 20. Juli 1944 handle es sich »um Ausrottungskämpfe unter den Würdenträgern des Dritten Reiches«. Mit Sicherheit irrte der britische Premier nicht darin, dass er von den Würdenträgern Deutschlands sprach. Am meisten freilich nimmt sie den Engländern noch heute übel, was schon die Verschwörergruppe 1944 mehr umgetrieben hatte als der organisierte Massenmord: »Vermutlich wollte Churchill nicht nur Hitler erledigen, sondern ein für allemal die Macht der Deutschen brechen.« Gräfin Dönhoff wird Trost bei dem Gedanken finden, dass wie zur Rache für jene vernünftige Absicht die Ehre der Verschwörer nun wiederhergestellt ist, indem deren Vorstellung von einem vereinten Europa unter deutscher Vorherrschaft endlich verwirklicht scheint.
Seit der Wiedervereinigung und seit insbesondere auch die ehemaligen Friedensfreunde heftig nach dem ersten Großeinsatz der Armee rufen, ist das Bedürfnis gewachsen, auch an dieser Front die Geschichte zu entsorgen. Jetzt kommen wieder die psychologischen Ladenhüter des deutschen Landsers zu Ehren, der sich, je weniger er es selbst glaubte, desto heftiger immer einreden musste, dass er anständig geblieben sei. »Das ist die einzige Lebensform, in der man noch mit einigem Anstand existieren kann«, kolportiert zustimmend Gräfin Dönhoff die Auskunft des Mitverschwörers Schulenburg, der, ehe er 1941 mit einigem Anstand seinem Kriegstagebuch anvertraute, der Überfall auf die Sowjetunion sei ein »Auftrag des Schicksals«, 1932 in die NSDAP eingetreten war.
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