Ausgewogene Artikel zu schreiben oder betuliche Vorträge zu halten, wäre Eike Geisel sinnlos erschienen, denn er wollte nicht das Für und Wider abwägen, sondern Reaktionen provozieren in dem Wissen, dass sich im Streit nachhaltiger Erkenntnisse gewinnen lassen und Differenzen klarer werden als in lauer Zustimmung. Seinen Aufsätzen wurde in der Regel »Kälte« und eine »bemerkenswerte Herzlosigkeit« attestiert. Die gleichen Vorwürfe hatte man auch Hannah Arendt gemacht.
Als er am 20. Februar 1991 von der Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste Hamburg, dem Deutsch-Israelischen Arbeitskreis, der GAL, der Solidarischen Kirche und Konkret eingeladen wurde, an einer Diskussion zum Verhältnis der deutschen Friedensbewegung und Israel teilzunehmen, rief sein »unausgewogener, unfairer Beitrag« (wie er ihn selbst ankündigte) erhebliche Unruhe hervor. Eike Geisel sagte, dass Saddam Hussein zumindest in Deutschland »ein Kriegsziel bereits erreicht hatte. Der Karneval war ausgefallen, und ersatzweise bevölkerten lauter gutgesinnte Menschen die Straßen«. Er wurde als »Kaffeehaus-Zionist« beschimpft, ein Vorwurf, den er mit »Du hast leider nicht die Möglichkeit, den damit verbundenen Gedanken in die Tat umzusetzen. Das ist vorbei« konterte.
Als Konkret in der Ausgabe 8/93 einen umstrittenen Vortrag von Christoph Türcke, den dieser auf dem Konkret -Kongress am 12. Juni gehalten hatte, veröffentlichte, um, wie Konkret schrieb, »eine Versachlichung der andauernden Debatte zu ermöglichen«, da kommentierte Wolfgang Pohrt: »Mir ist der Unterschied zwischen Bewohnern verschiedener Erdteile herzlich egal. Wichtig ist mir, mich von einem wie Türcke zu unterscheiden. So wie der mag ich nicht sein. Und wenn er in konkret publiziert, tue ich es nicht.«
Und auch Eike Geisel, der gerade wieder aus den USA zurückkam, kündigte seine Mitarbeit bei Konkret auf: »Irgendwo bei Adorno steht, dass ein Grenzübertritt nach Deutschland so etwas wie der Wiedereintritt in die Barbarei sei. dass mich neulich bei der Rückkehr aus dem Ausland ein derartiges Gefühl beschlich, lag nicht daran, dass neue Nazis gerade eine Parade in Hessen abhielten, sondern daran, dass alte Linke publizistisch nach Fulda hinübergrüßten mit der Frage: ›Gibt es ein biologisches Substrat, das es gestattet, Menschenrassen in nichtdiskriminierender Absicht zu unterscheiden?‹ [Christoph Türcke] Noch vor Jahresfrist wollte man den Rechten nicht die Nation überlassen; jetzt ist man bei dem Wettstreit folgerichtig bei der Rasse angelangt. Der Skandal ist nicht Türckes Text, der in die ›Junge Freiheit‹ oder in den ›Spiegel‹ gehört; skandalös ist der Gestus, mit dem ›konkret‹ ihn als ›Türcke-Kontroverse‹ abdruckt. Skandalös vor allem aber ist Gremlizas Kommentar, der sich zu Türckes Melange aus Adorno und Gobineau, einer nun wirklich postmodernen Zuchtwahl, verhält wie der Sozialarbeiter zu den rassistischen Brandstiftern: wenig Verstand, viel Verständnis. Bei dieser Suche nach einer neuen Nürnberger Gesetzlichkeit möchte ich nicht mehr zu den Autoren von ›konkret‹ zählen.« Erst über ein Jahr später erschien wieder ein Artikel von Geisel in Konkret .
Die Redakteure, die er belieferte, waren von der »begnadeten Niedertracht seines gewitzten Stils« beeindruckt. Nur drucken wollte man sie in der bürgerlichen, aber auch linken Presse wie der taz in der Regel dann doch lieber nicht. Die bürgerlichen Medien wollten sich keinen Ärger einhandeln, Redakteure der taz bekamen »Bauchschmerzen« von seinen Artikeln. In Israel hingegen, wo einige Arbeiten Eike Geisels in der Tageszeitung Haaretz veröffentlicht wurden, gab es damals zwar nicht unbedingt eine bessere öffentliche Meinung, aber die Angst vor ihr und möglichen Abokündigungen hatte noch nicht dazu geführt, dass man sich ihr unterwarf und ihre Ressentiments teilte, indem man Verständnis für diese aufbrachte.
Trotz dieser unerfreulichen Auseinandersetzungen mit Redakteuren, die oft mühseliger waren, als die Artikel zu schreiben, landete Eike Geisel mit einem seiner letzten Texte einen Coup, der im Leben eines freien Autors nicht sehr häufig vorkommt. Eike Geisel hatte das Buch »Auge um Auge. Opfer des Holocaust als Täter« von John Sack, eine Übersetzung aus dem Amerikanischen, in der Frankfurter Rundschau (die taz hatte den Artikel abgelehnt) als »Antisemitische Rohkost« vorgestellt. In der Februarausgabe von Konkret erschien zur gleichen Zeit unter dem Titel »Die Protokolle der Rächer von Zion oder die neuen ›Opfer der Opfer‹« eine ausführliche Fassung.
Noch bevor das Buch ausgeliefert wurde, zog der Piper Verlag es am 9. Februar 1995 zurück. Dieser nunmehr publik gemachte Skandal wurde sogar in der New York Times und der Herald Tribune registriert. In der folgenden ausgedehnten Kontroverse waren die meisten Journalisten trotz der primitiven antisemitischen Töne John Sacks dem Überbringer der schlechten Nachricht nicht sehr freundlich gesonnen, weil viele von ihnen der dünnen These von der Angleichung der Opfer des Nationalsozialismus an die Täter eine gewisse Plausibilität abgewinnen konnten.
Tagesspiegel , Welt , taz , Spiegel , Süddeutsche Zeitung , ja sogar die Zeit , die den »Opfern der Opfer« nicht nur ein ganzes Dossier widmete, sondern auch einen Leserbrief John Sacks im redaktionellen Teil veröffentlichte, waren sich einig, dass ein tapferer und wegen seiner jüdischen Herkunft unverdächtiger Autor zwar etwas naiv, aber durchaus verdienstvoll das »Tabuthema Vertreibung« behandelt habe, dem man sich, wie es in der taz hieß, »unverkrampft« nähern wollte. Zu diesem Thema nämlich könne man sich »entweder überhaupt nicht, oder wenn, dann (nur) unter permanenter Hinzufügung, dass die Vertreibung letztendlich eine Folge des von Deutschen begangenen Weltkrieges, von Auschwitz und den deutschen Verbrechen sei« ( taz ), äußern. Der Mühe der »permanenten Hinzufügung« wollte man sich nicht mehr unterziehen, man wollte reden dürfen wie ein Vertriebenenfunktionär, und insofern hat Eike Geisel diesen Journalisten zu ihrem coming out verholfen.
Auf ein nicht mehr realisiertes Projekt verweist der Artikel »Das Ende der Schonzeit« über jüdische Rächer nach 1945, eine Art Exposé für ein Buch, das bei Rowohlt Berlin erscheinen sollte. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung hatte zunächst Interesse an einem Vorabdruck gezeigt, dann aber doch lieber Abstand davon genommen. Ein anderes Vorhaben, das nicht mehr mit Hilfe des Autors zustande kam, war ein dritter Band seiner Aufsätze, der dann 1998 unter dem Titel »Der Triumph des guten Willens« als seine nachgelassenen Schriften veröffentlicht wurde.
Dieser dritte Essay-Band war nur einer der zahlreichen Pläne, die Eike Geisel immer gerne schmiedete und von denen er mit einer Begeisterung erzählte, die äußerst ansteckend war. Zuletzt bemühte er sich um einen Lehrauftrag in den Vereinigten Staaten, den er zum einen mit Archivforschungen für sein Buchprojekt über die jüdischen Rächer nutzen wollte, zum anderen hoffte er, mit der Ortsveränderung etwas Abstand von den immer unerträglicher und zäher werdenden Debatten in Deutschland zu gewinnen. Aber daraus wurde nichts mehr.
Es ist etwas einfach, darauf hinzuweisen, dass seinen Artikeln heute aufgrund des weltweit grassierenden Antisemitismus und der Toten in Paris wieder große Aktualität zukommt, aber es ist nicht zu leugnen, dass es tatsächlich so ist, auch wenn sich die gesellschaftlichen Verhältnisse seit 1995 erheblich verändert haben. Aber gerade in einer Zeit, in der selbst das Zentrum für Antisemitismusforschung in Berlin im Nahostkonflikt einen nachvollziehbaren Grund für die »generalisierte Feindschaft gegenüber Jüdinnen und Juden« erkennt, wäre es spannend gewesen zu erfahren, wie Eike Geisel dagegen angeschrieben hätte, denn mit Sicherheit hätte ihm die Krankheit dieser Zeit keine Ruhe gelassen.
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